Lokalsport

Urlaub in der Innenstadt

Kirchheimer Flüchtlinge fühlen sich beim Public Viewing während der EM pudelwohl

Heute Abend gilt‘s: Deutschland spielt gegen Frankreich um den Einzug ins EM-Finale. Dutzende Kirchheimer Refugees drücken dem Löw-Team die Daumen.

Kirchheim feiert Deutschland, und Flüchtlinge aus Afrika sind tatkräftig dabei. Der Kameruner Alain Giresse Choussi (kl. Bild),
Kirchheim feiert Deutschland, und Flüchtlinge aus Afrika sind tatkräftig dabei. Der Kameruner Alain Giresse Choussi (kl. Bild), Neuzugang des TSV Weilheim, ist einer von ihnen.Fotos: Carsten Riedl

Kirchheim. Alain Giresse Choussi hat‘s geschafft. Fußballerisch. Am Sonntag nimmt der 18-Jährige aus Kamerun beim TSV Weilheim als festes Kadermitglied die Saisonvorbereitung auf – voller Vorschusslorbeeren von Norbert Krumm, der ihn in der von ihm gecoachten VfL-Flüchtlingsgruppe vor Wochen als technisch versierten Außenbahn-Renner ausgemacht und weitervermittelt hatte. „Eigentlich wollte ich Alain ja dem Drittligisten SG Sonnenhof Großaspach anbieten, doch die Weilheimer waren schneller“, sagt Krumm.

TSVW-Trainer Chris Eisenhardt hat den blonden Afrikaner nach zwei, drei Trainingseinheiten als Mann mit Landesliga-Potenzial beschrieben. Die WFV-Spielfreigabe hat er schon, jetzt fehlt noch eines: Fitness. Dafür joggt Weilheims schillerndster Neuzugang täglich bis zu zwei Stunden.

Choussi gehört zu den aktuell 212 Flüchtlingen aus neun Nationen, die derzeit in der Kreissporthalle untergebracht sind. Die 6-Mann-Schlafräume in der Turnhalle sind eng und spartanisch und die Laufwege selten menschenleer – die Chance, sich aus dem Weg gehen zu können, ist im Flüchtlings-Camp gleich null. Manchmal ist die Stimmung unter den Bewohnern schlecht. „Außer einem Spielfeld und Tischfußball haben wir hier ja nichts“, sagt Franck (19), der wie Christian (22), Zacharias (25) und Louis (32), der angeblich 17  Kinder von acht Frauen hat, ebenfalls aus Kamerun stammt. Jetzt hocken sie zusammen, wie sie das öfters tun, seit die Wahl auf Kirchheim als Flüchtlings-Standort gefallen ist. Dicke Kumpels sind sie auch schon. Das meiste unternehmen sie zusammen.

Die Touren in die Kirchheimer City, wo zahlreiche Pubs während des EM-Turniers regelmäßig Public Viewing bieten, bestreiten sie im Fahrrad-Konvoi. Geschlossen fährt die Kamerun-Fraktion aus der Boschstraße 28 dann um 20.30 Uhr abends los, deckt sich mit Chips und Sprudelwasser ein und schaut, kurz vorm Anpfiff angekommen, wo es noch freie Plätze gibt oder die anderen Flüchtlinge stehen. „Während der Übertragungen herrscht immer eine tolle Atmosphäre. Die Deutschen sind nett zu uns. Wir genießen diese Veranstaltungen in Kirchheim, weil wir alle den Fußball lieben“, sagt Zacharias, der nach achtmonatigem Aufenthalt schon ein erstaunlich gutes Deutsch spricht. Kaum ein EM-Spiel lassen die jungen Burschen aus, denn es ist die perfekte Abwechslung von einem Camp-Alltag, der ansonsten von Nichtstun, Schule und Warten auf die neuesten behördlichen Bescheinigungen geprägt ist.

Und so machen die schwarzen Jungs von der Kreissporthalle so oft wie möglich Urlaub vom grauen Alltag – beim Public Viewing in der Innenstadt. Ehrensache, für welche Nation sie sympathisieren und für wen sie schwarz-rot-gold-teilbekleidet ihre Sympathien demonstrieren: für Deutschland. Fast alle wünschen der Mannschaft von Jogi Löw den Titelgewinn“, gibt Zacharias die Mehrheitsmeinung wieder. Franck liebt die Spielweise von Julian Draxler und ist Wolfsburg-Fan, Christian liebt Kimmich und den FC Bayern: Das Who is who der deutschen Bundesliga kennen sie in Auszügen auch schon.

Auch Alain Giresse Choussi wäre gerne ein Starkicker. „Fußball ist mir von allem am wichtigsten“, bekennt er auf die Frage nach seinem Berufsziel, sollte er beim Asylverfahren nicht durchs Sieb fallen. Am liebsten würde er also Profikicker werden – es ist die Karte, auf die er setzt und die ihn keinen Gedanken daran verschwenden lässt, das Geldverdienen eventuell auf andere Weise zu bestreiten. Sollten alle Stricke reißen, will er Automechaniker werden. Seinem neuen Trainer Eisenhardt („das Gute ist, dass Alain zumindest bis zum Saisonende 2016/17 in Deutschland bleiben kann“) wird der Fußball-Ehrgeiz des 1,67 Meter kleinen Rechtsfüßlers gefallen.

Jenem steht heute übrigens ein Aktiv-Tag bevor: Am Nachmittag geht‘s mit dem Fahrrad zum zweistündigen VfL-Flüchtlingstraining an der Jesinger Allee (Beginn 15 Uhr), danach geht‘s zum Duschen und Umziehen zurück in die Boschstraße, anschließend wartet die Übertragung des Live-Länderspiels in der Innenstadt. Dann wollen sie Deutschland zum Sieg schreien.