Lokalsport

Warum fliegt der Ball beim Freistoß um die Kurve?

Interview Professor Dr. Ansgar Thiel hält Schulsport für grob unterschätzt und fordert mehr Theorie im Unterricht.

Tübingen. Sportwissenschaftler wie Prof. Dr. Ansgar Thiel halten den Sportunterricht an Schulen für dringend reformbedürftig. Der Schulsport hinke der Entwicklung in anderen Fächern seit Jahren hinterher.

Herr Thiel, der Präsident des Nordbadischen Sportbunds, Heinz Janalik, hat in einem Interview gesagt, Sportlehrer an Schulen seien Pädagogen mit „Schmalspurausbildung,“ die nur ihre eigenen Defizite weiterreichten. Teilen Sie diese Meinung?

Ansgar Thiel: Überhaupt nicht. Wenn ich den Schulsport kritisiere, meine ich damit nicht die Sportlehrkräfte. Wir haben gut ausgebildete Sportlehrer, die in einem Fach unterrichten, das sehr schwierig ist. Das Problem liegt darin, dass dem Sport nicht die Bedeutung beigemessen wird, die ihm aufgrund seiner gesellschaftlichen Relevanz zustünde.

Wie meinen Sie das?

Sport und Bewegung sind die effizientesten und kostengünstigsten Mittel, eine Gesellschaft gesund zu erhalten. Der Sport wird öffentlich und politisch völlig unterschätzt.

Was also schlagen Sie vor?

Der Schulsport muss mehr systematisiert werden. Kindern und Jugendlichen sollte mehr theoretisches Wissen darüber vermittelt werden. Bisher ist es Lehrern weitgehend selbst überlassen, was sie im Sport unterrichten. Dabei können Sportlehrer sehr viel mehr, als sie im Unterricht tatsächlich anwenden. Der neue Bildungsplan ermöglicht es in starkem Maße, Theorie mehr zum Gegenstand des Sportunterrichts zu machen.

Nennen Sie ein Beispiel.

Kinder sollten Zusammenhänge erklärt bekommen. Wie funktioniert Bewegung? Was bewirkt Training? Warum fliegt der Ball beim Freistoß um die Kurve?

Motorik und Trainingslehre in der Grundschule?

Warum denn nicht? Warum sollen wir in der Grundschule Mathe unterrichten aber keine Sporttheorie? Andere Fächer haben sich konstant weiterentwickelt, nur der Sport nicht. Das gilt auch für Ausstattung und Infrastruktur. Wir brauchen in den Hallen Whiteboards wie in jedem Klassenzimmer, und wir brauchen im Sport durchgängige Schul-Literatur, die qualitätsfest ist. Und das Thema Sport und Bewegung sollte vor allem fächerübergreifend unterrichtet werden. Anknüpfungspunkte gibt es genügend, etwa in Biologie oder Geschichte. Die Schule ist der Ort, an dem gesellschaftlich relevantes Wissen vermittelt werden soll und zwar in allen Bereichen.

Wo bleibt der Spaß?

Der ist keine Frage des Stoffplans, sondern der Didaktik. Spaß zu vermitteln, Themen altersgerecht aufzubereiten ist ein didaktisches Prob­lem. Kinder, die motorisch weniger begabt sind, können über die Theorie die Chance erhalten, in die Praxis zu kommen. Heute gilt doch oft die Regel, wer ein talentierter Vereinssportler ist, bekommt schon mal eine Eins.

Manche werden nun sagen, wenn von drei Wochenstunden Sport eine für Theorie drauf geht, bleibt noch weniger Zeit für Bewegung.

Diesen Einwand höre ich oft. Wenn ich Bewegungszeit auf den Sportunterricht reduziere, habe ich sowieso schon verloren. Bewegung muss viel stärker ins Schulleben integriert werden. Was sich im Bereich Ganztagsschule entwickelt, ist genau der richtige Ansatz. Da spielen auch Vereine eine große Rolle. Sie sind wichtigster Sportanbieter außerhalb der Schule und sie organisieren Leistungssport. Die Schule sollte daher auch Wissen vermitteln, wo kann ich wie Sport machen? Sportlehrer müssen nicht zwangsläufig Vereinssportler sein aber sie müssen als Lotsen und Koordinatoren gut vernetzt sein und sie sollten ein sicheres Gespür dafür haben, welche versteckten Talente in Kindern schlummern.Bernd Köble

Zur Person

Prof. Dr. Ansgar Thiel ist Leiter des Instituts für Sportwissenschaft der Uni Tübingen. Er leitet das sechsköpfige Wissenschaftsforum im Württembergischen Landessportbund (WLSB), das Handlungsempfehlungen zu aktuellen Themen erarbeitet.