Lokalsport

Zwischen Kreisligafußball und Paralympics-Träumen

Mit Thomas Schuwje trainiert ein Querschnittsgelähmter den TSV Oberlenningen, der mit der Rollstuhl-Rugby-Nationalmannschaft 2016 nach Rio will

Nationalspieler, Rugbybcoach, Fußballtrainer: So facettenreich sich das Leben von Thomas Schuwje darstellt, so wenig selbstverständlich ist es, dass der 29-Jährige seinen Alltag nahezu perfekt meistert: Seit einem Unfall vor sechs Jahren sitzt der Oberlenninger im Rollstuhl. Sportlicher Ehrgeiz und schwarzer Humor haben darunter nicht gelitten.

Ob für die Rugby-Nationalmannschaft aktiv auf dem Feld oder den TSV Oberlenningen als Trainer an der Seitenlinie: Thomas Schuwje
Ob für die Rugby-Nationalmannschaft aktiv auf dem Feld oder den TSV Oberlenningen als Trainer an der Seitenlinie: Thomas Schuwje ist immer engagiert bei der Sache. Foto: Deniz Calagan

Lenningen. Es ist heiß im Wintergarten des Einfamilienhauses am Oberlenninger Ortsrand, die Mittagssonne heizt das Glasdach unbarmherzig auf. „Heute kommt noch ein Techniker, der nach der Klimaanlage schaut“, sagt Thomas Schuwje, während er sich ein Glas Sprudel einschenkt. Wo andere sich aus reiner Bequemlichkeit die Raumtemperatur künstlich absenken lassen, ist der Mann mit den blonden Haaren auf konstante Coolness dringend angewiesen. „Bei so einem Wetter geh‘ ich ein. Ich kann nämlich nicht mehr schwitzen, das ist echt nervig“, erklärt er mit gefasster Stimme.

Thomas Schuwje hat sich bei einem Unfall vor sechs Jahren drei Halswirbel gebrochen, sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Wegen der durchtrennten Nerven kann sein Körper die eigene Temperatur nicht mehr regulieren, was den 29-Jährigen zwingt, im Sommer immer eine Wasserflasche dabeizuhaben, mit der er sich bei Bedarf kurz absprüht. „Ich komme mir manchmal vor wie eine Zimmerpflanze“, lacht er.

Sein Handicap mit Galgenhumor zu nehmen, gehört für Schuwje dazu, seit jener Tag im Mai 2007 sein Leben für immer veränderte. Ein Auto nimmt dem damaligen Landesligakicker des TSV Köngen in einer Nebenstraße in Nürtingen die Vorfahrt, Schuwje hat auf seinem Motorrad keine Chance, zieht sich neben den gebrochenen Halswirbeln schwerste innere Verletzungen zu. Dass er überlebt, ist purer Zufall, wie er erzählt. „Ein Rettungshubschrauber flog zu dem Zeitpunkt über Nürtingen und ist mehr oder weniger neben mir gelandet. Wenn die mich nicht gleich nach Tübingen gebracht hätten, wäre ich wahrscheinlich an Ort und Stelle verblutet.“

Trotzdem ist in der Uniklinik schnell klar, dass Schuwje vom Hals abwärts gelähmt bleiben wird und nie mehr wird laufen können – für den damals 23-jährigen Sportverrückten ein Schock. „Ich musste wie ein Baby alles neu lernen“, erinnert er sich an elf Monate Krankenhaus und fünf Monate Reha. Doch Schuwje kämpft sich dank eines eisernen Willens und der Kraft, die ihm Familie und Freunde geben, wieder zurück. „Ich hatte jeden Tag bis zu 20 Leute zu Besuch“, ist er heute immer noch dankbar für die Unterstützung seines Umfelds.

Durch Zufall wird er in der Tübinger Uniklinik auf den Sport aufmerksam, der bis heute sein Leben prägt: Rollstuhl-Rugby. Für sogenannte Tet­raplegiker wie Thomas Schuwje, die an allen vier Gliedmaßen gelähmt sind, der einzig mögliche Mannschaftssport. „Beim Basketball musst du gezielt werfen und fangen können, das geht bei mir nicht“, erklärt er. Beim Rugby hingegen muss ein spezieller Volleyball über die gegnerische Torlinie gefahren werden, darf dabei geworfen, gedribbelt, gepasst oder auf dem Schoß transportiert werden – das geht selbst mit eingeschränkter Motorik ganz gut.

Zwei aus jeweils vier Spielern bestehende Mannschaften stehen sich in einem Match vier Mal acht Minuten lang auf einem Basketballfeld gegenüber und schenken sich nichts. „Da geht‘s richtig zur Sache, die Rollstühle müssen viel aushalten, wenn die Spieler mit knapp 20 Sachen aufeinanderprallen“, so Schuwje, der keine Woche nach seiner Krankenhausentlassung zum ersten Mal ein Training aufsuchte und von Beginn an begeistert war. Über Tübingen kam er zu den SF Illerrieden bei Neu-Ulm, einer der wenigen Vereine in Deutschland, die Rollstuhl-Rugby anbieten – die Mitte der Siebzigerjahre in Kanada aus dem Rollstuhl-Basketball hervorgegangene Disziplin ist mit bundesweit 370 aktiven Spielern selbst innerhalb des Behindertensports nur eine Randerscheinung.

Dabei ist Rollstuhl-Rugby ein echter Hingucker, der von den Beteiligten neben guter Kondition auch ein geschultes Auge verlangt. „Das ist ein stark von Taktik geprägter Sport. Es gibt unheimliche viele Spielzüge, von denen jeder seinen eigenen Namen hat“, sagt Schuwje. Hinzu kommt, dass die Mannschaftsaufstellung von der jeweiligen Behinderung der Spieler abhängt. Deren Schwere entsprechend hat jeder eine Punktzahl, die von 0,5 für stark Beeinträchtigte bis 3,5 für weniger stark Beeinträchtigte reicht. Ein Team darf nicht auf mehr als sieben Punkte kommen, sonst droht ein Debakel wie vor zwei Jahren. Schuwje, binnen kürzester Zeit vom Illerriedener Zweitligaspieler zum Trainer aufgestiegen und in die deutsche Nationalmannschaft berufen, verpasste mit der Auswahl des Deutschen Rollstuhl-Sportverbands (DRS) wegen eines zu Unrecht mit einer höheren Punktzahl eingestuften Spielers die Qualifikation für die Paralympics 2012 in London – das wurmt bis heute. „Ziel und Traum ist seitdem ganz klar Rio 2016“, blickt Thomas Schuwje auf die Spiele in Brasilien in drei Jahren.

Das Ticket nach Südamerika gibt‘s für einen Platz unter den besten Fünf bei den in einer Woche beginnenden Europameisterschaften in Belgien. Ob‘s klappt? „Von Platz eins bis sechs können wir alles erreichen“, glaubt Schuwje, der dem Reiz des Rugbys von Anfang an erlegen war. „Dass man mit den Rollstühlen im Spiel mehr oder weniger alles machen darf, hat mich fasziniert. Außerdem war ich schon immer ein Teamplayer.“

Das können neben seinen Rugbykameraden auch die Spieler von Fußballkreisligist TSV Oberlenningen bestätigen. Ansonsten wären sie auch kaum auf die Idee gekommen, den langjährigen TSVO-Mittelfeldspieler als Trainernachfolger des abgewanderten Alessandro Di Martile vorzuschlagen. „Die Jungs kennen mich alle schon lange, haben mich einfach gefragt, ob ich einsteigen will“, so Schuwje, der seit 1. Juli offiziell das Zepter beim TSVO schwingt. Wenn er in Sachen Rugby unabkömmlich ist, übernimmt Co-Trainer Bojan Sarcevic das Kommando.

So wie gestern, als die Ober­lenninger beim Teckbotenpokal in Neidlingen zeitgleich zu einem Abteilungsmeeting ranmussten. Schuw­je begreift sich dabei als Teil eines Teams, das den TSVO auf lange Sicht wieder nach oben bringen will. „Es wird keine One-Man-Show geben, wir entscheiden zusammen und ziehen alle an einem Strang“, verweist Schuwje auf das Oberlenninger Abteilungsleiter-Trio Roman Meusel, Matthias Feller und Patrick Häußler.

Auf was für einen Trainer sich die Kreisligakicker unterm Wie­landstein einstellen müssen, beantwortet Thomas Schuwje mit einem Lächeln. „Ich kann beides, Zuckerbrot und Peitsche. Aber auf lange Sicht kommt man mit einer ruhigen Art weiter.“ Selbige hat ihn nach eigenen Worten auch vor dem Unfall ausgezeichnet, ohne dass darunter seine Direktheit gelitten hätte. „Wenn ich Hilfe brauche, spreche ich die Leute einfach an, da hab‘ ich kein Problem.“

Probleme gibt‘s hingegen im Alltag, wenn er mit seinem behindertengerecht umgebauten Bus („Wieder selbst Auto zu fahren, ist ein riesengroßer Schritt zu mehr Mobilität“) an für ihn unüberwindbaren Hürden wie Parkscheinautomaten scheitert. Oder wenn er bei Krankenkasse und Rentenversicherungsträger seine Rechte einfordert. „Manchmal wird man da behandelt wie ein Bittsteller“, sagt er nachdenklich, „dann muss ich oft an andere in ähnlichen Situationen denken, die keine Familie oder Freunde hinter sich haben.“ Ohne die, sagt er, würde er lange nicht so gut dastehen, wie er es tut – dass er „stehen“ sagt, ist ihm bewusst, und er sagt es mit einem Lächeln. „Seit dem Unfall ist mein schwarzer Humor noch größer geworden. Ich kenne mittlerweile alle Rolli-Witze.“

Diese Einstellung versucht er seit seinem Unfall regelmäßig auch anderen Betroffenen zu vermitteln. Schon oft hat Thomas Schuwje motiverende Vorträge in Krankenhäusern und vor Schulklassen gehalten. Sein Motto: „Es gibt immer etwas, das man tun kann. Es geht immer weiter.“