Lenningen. „Das geht uns alle an – im Großen wie im Kleinen“, begrüßt Ev Dörsam, Leiterin der Gemeindebücherei Lenningen, die Gäste im Bahnhof in Unterlenningen. Eingeladen hatten neben der Bücherei die Engagierten Bürgern Lenningen und die Landfrauen Lenningen. Den Zuhörerinnen blieb manches Mal die Kost im Halse stecken beim Vortrag „Frisch auf den Müll – Ursachen und Vermeidung von Lebensmittelverschwendung“ von Dr. Beate Arman, Bildungsreferentin Agrar- und Umweltbereich, Entwicklungspolitik, Hauswirtschaftliche Familienbetreuerinnen beim Landfrauenverband Württemberg-Baden.
Schnell legt Beate Arman den Finger auf die Wunde: „Die Menschen in unserer Gesellschaft definieren sich stark über den Konsum, beispielsweise über Haus oder Wohnung, Auto, Kleidung und Reisen. Für Lebensmittel sind sie dagegen wenig bereit, Geld auszugeben. Im Durchschnitt sind es 12,5 Prozent.“ Trotzdem landen viele Lebensmittel auf dem Müll. „Wenn wir viel wegwerfen, hat das zur Folge, dass nicht genügend Lebensmittel für alle da sind. Können wir uns eine Milliarde hungernde Menschen leisten?“, fragt sie in die Runde.
Die Verschwendung hat ein großes Ausmaß. Laut FAO, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, landet überall auf dem Globus ein Drittel aller Lebensmittel auf dem Müll, das sind jährlich 1,3 Milliarden Tonnen. „In ärmeren Ländern sind es 120 bis 170 Kilogramm pro Kopf und Jahr, in den reichen 300 bis 320 Kilogramm, die nicht verwendet werden“, so Beate Arman. Mehrere Faktoren sind die Ursache für den Lebensmittelverlust in den armen Regionen der Welt: mangelnde Aufbewahrungsmöglichkeiten, fehlendes Wissen und Technik in der Landwirtschaft sowie schlechte Infrastruktur. „In den privaten Haushalten kommt so gut wie nichts um“, erklärt die Referentin.
In Deutschland werden elf Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich verschwendet. Verantwortlich für den größten Batzen von 61 Prozent und damit 81,6 Kilogramm pro Kopf und Jahr ist jeder einzelne Endverbraucher. Der Rest verteilt sich auf die Großverbraucher mit 17 Prozent, die Industrie mit ebenfalls 17 Prozent und der Handel kommt mit fünf Prozent recht bescheiden daher. „Wir sind‘s maßgeblich, auch was unsere Ansprüche anbelangt“, verdeutlicht Beate Arman. Die Verbraucher wollen Auswahl haben – und die Industrie sorgt mit über 100 Joghurtsorten dafür. Außerdem sollen Erdbeeren und Radieschen perfekt aussehen und frisch sein, weshalb sie bereits nach einem Tag aus dem Regal verschwinden.
Doch ganz so unschuldig am Wegwerf-Wahnsinn von Lebensmitteln ist die Industrie nicht. Sie legt das Mindesthaltbarkeitsdatum für jeden Artikel selbst fest. „Sogar unverderbliche Waren wie Salz bekommen solch ein Datum verpasst“, ärgert sich Beate Arman. Weil immer mehr Verbraucher den Bezug zu Lebensmitteln verloren haben, verlassen sich die Menschen auf eben jenen Stempel. Viele trauen sich schlicht nicht zu, feststellen zu können, ob ein Lebensmittel verdorben ist oder nicht. Dieses Manko machen sich die Lebensmittelhersteller zunutze. Sie kurbeln ihren Warenumsatz an, indem sie immer schnellere Ablaufdaten festlegen. So etwa beim Mineralwasser, das nach sechs Monaten „abgelaufen“ ist, vor einigen Jahren wies genau dasselbe Produkt noch eine Haltbarkeit von 18 Monaten auf.
Deutlich vor Augen geführt wurde den Zuschauerinnen die Lebensmittelverschwendung in einem rund halbstündigen Film von Valentin Thurn. Bestes Gemüse und originalverpackte Nudeln landen im unappetitlichen Müllcontainer. Obsthandelsriesen nehmen afrikanischen Kleinbauern das Land für Bananenplantagen weg und auf deutschen Äckern bleiben 40 bis 50 Prozent der Kartoffelernte liegen, weil die Erdäpfel nicht den Agrarnormen entsprechen und entweder zu klein oder zu dick sind. „Ich bin froh, wenn die Leute nachsammeln, das macht mir Spaß. Dann bin ich von der elendigen Problematik befreit“, spricht der Landwirt ins Mikro.
Per Vertrag werden Bäckereien dazu verpflichtet, in den Vorkasse-Bereichen von Einkaufcentern bis kurz vor Ladenschluss das komplette Sortiment vorrätig zu haben. 20 Prozent Retourenquote ist deshalb bei Großbäckereien keine Seltenheit. „Das tut auch betriebswirtschaftlich weh“, so der Bäcker. Mit dem, was deutschlandweit weggeworfen wird, könne ganz Niedersachsen versorgt werden. Immerhin die Hälfte wird zu Tierfutter verarbeitet. Der porträtierte Großbäcker hat für sich eine Lösung gefunden: In der richtigen Mischung mit Holz befeuert er aus den durch den Wolf gedrehten Retouren seine Backöfen. Würden alle Bäcker diesem Beispiel folgen, könnte laut seiner Aussage ein Atomkraftwerk abgeschaltet werden. „Der Film macht betroffen und mich immer wieder aufs Neue wütend“, erklärt Beate Arman. Diese Ansicht teilen die Zuhörerinnen, wie die anschließende, lebhafte Diskussion zeigt.