Samuel Kummer im Zentrum seiner musikalischen Welt
Marienkirche als Kathedrale

Owen. Standing Ovations in einem Orgel-Konzert – in Owen ist es möglich – wenn Samuel Kummer spielt. So war es auch am vergangenen


Sonntag in der Marienkirche. Hoch aufragend in festlicher Beleuchtung das edle Instrument. Eine erwartungsfrohe Zuhörerschaft in der sonderbestuhlten Kirche. Draußen tirilierte eine kecke Mönchsgrasmücke, und drinnen begann auch schon ein unglaubliches Vexierspiel.

Ein Präludium f-Moll von Johann Ludwig Krebs stand auf dem Programm, aber April, April: von der Orgel hörte man „Wie lieblich ist der Maien“. Nach einigen verwirrenden Einleitungstakten, die einen am eigenen musikalischen Sachverstand schier verzweifeln ließen, die Frage: spielt Kummer nun Krebs, oder krebst Kummer in frühklassischen Gefilden? Wer die Melodie noch nicht erkannt haben mochte, wurde von Pfarrer Grafs herzlicher und sachkundiger Conférence mit launischen Worten aufgeklärt – auch über das Benefiz: Die Orgel muss ausgereinigt werden, und Samuel Kummer spielt, dank edler Spender aus Owen, den ersten Batzen dazu ein.

Befreiende Heiterkeit in der Kirche, beste Voraussetzung um den F‑Moll-Ernst des ersten Orgelstückes auszuhalten. Natürlich schimmerte Bach durch, wie fast immer bei Krebs, aber was dann kam, war Spätbarock im Breitwandformat. Präludium, so der Titel, ist maßlos untertrieben. Es war Vor- und Nachspiel samt Zwischenspiel in einem, und noch zwei deftige Fugen dazwischen. Kummer navigierte sich nonchalant durch das Notengebirge und bewies wieder einmal sein Markenzeichen: Je schwerer, desto besser!

Das zog sich durchs ganze Programm: Wirkte die Choralbearbeitung von Krebs „Freu dich sehr, o meine Seele“ noch harmlos, so ging es mit der Bachschen Triosonate d‑Moll wieder hart zur Sache. Zwar zog der Organist dabei nicht alle Register der Orgel, aber alle Register seines Könnens. Die wenig abwechslungsreichen grundtönigen Registrierungen waren für die Zuhörer nicht immer inspirierend. Der Spieler indes war darauf weniger angewiesen, seine unfassbare Spielgewandtheit trug ihn sicher über alle Untiefen hinweg.

Bei den drei Stücken des bei uns unbekannten französischen Komponisten Gabriel Pierné, geboren vor 150 Jahren, wurde Kummer dann alles abverlangt. Er stand vor der fast unlösbaren Aufgabe, in einem akustisch trockenen Raum und einer modernen Orgel den Sfumato-Klang hervorzuzaubern, der nur in einer Kathedralakustik entstehen kann. Im ersten schnellen, und zweiten (weniger inspirierten) langsamen Satz, mühte sich Kummer redlich ab. Endlich, beim dritten Anlauf, bei „Scherzando“, geschah das Wunder: Die Marienkirche weitete sich zur Kathedrale mit französischem Flair. Chapeau, Monsieur!

Nach einer solchen Meisterleistung sich an Improvisationen über Kirchenlieder zu wagen, das kann sich nur ein begnadeter Organist getrauen. Doch bei einer Trällermelodie, wie „Geh aus mein Herz und suche Freud“, musste selbst Samuel Kummer auf Gnade hoffen. Er tat es nicht umsonst, denn auf der vom Publikum getroffenen Auswahl konnte er „Harre, meine Seele“ herausziehen und damit wieder in die impressionistische französische Klangwelt eintauchen, von der er hergekommen war. Auch mit der Ritornellform seiner Musik zu „Wachet auf ruft uns die Stimme“ befand sich der Organist wieder im Zentrum seiner musikalischen Welt. Einfach fabelhaft, wie scheinbar mühelos sich der anspruchsvolle Tenor-Cantus firmus in ein dichtes thematisches Geflecht einfügte. Unvergesslich!

Ein bisschen abgenützt dagegen die Concerto-grosso-Form bei „Du meine Seele singe“. Doch einen Geniestreich nach dem anderen abzuliefern, das darf man auch von einem Samuel Kummer nicht verlangen. Und im Regerstil zu enden, wie Pfarrer Graf es angesagt hatte, und so die Gemüter beruhigen: Da konnte nach einem solchen Anti-Reger-Programm doch nur das Beruhigen gelingen.

Dass im Jahr 2015, wenn die Orgel wieder frisch hergerichtet sein wird, Kummer wieder nach Owen kommen könnte: Diese Aussicht ist doch wieder sehr aufregend!