Kirchheim. Nach Wochen des Probens und der Aufregung durfte „Er“ sich nun endlich vor Publikum durch die anonyme Masse kämpfen, um zu „Ihr“ zu gelangen, wobei immer wieder einzelne Personen dieser anonymen Menge wortwörtlich ihre Masken abstreifen und ihr wahres Gesicht zeigen, sodass viele unterschiedliche Schicksale ineinanderfließen, durch die sich die Liebesgeschichte von Ihr und Ihm durch das gesamte Stück hinweg durchzieht. Zu sehen war dies bei der Mittel- und Oberstufen-Theater-AG des Ludwig-Uhland-Gymnasiums, die das Stück „Die Liebenden in der Untergrundbahn“ nach Jean Tardieu sowohl in Kirchheim als auch in Stuttgart aufführte.
Unterschiedlichste Personen treffen aufeinander, dem Publikum werden immer wieder kleine Einblicke in die Schicksale der am Bahnhof eilenden, schlendernden und wartenden Personen gegeben. Trotz doppelt besetzter Rollen kommt es dank etlicher Kostümwechsel nie zu Unklarheiten, und die teils aus dem Leben gegriffenen, teils überspitzt dargestellten Szenen sind amüsant.
Dann ein neues Szenario in der U-Bahn: Sie steht am einen Ende des Abteils, Er am anderen. Sie werden getrennt von einer Masse von Menschen, die mit dem Rücken zum Publikum und einer weißen Maske auf dem Hinterkopf vom Schwung der U-Bahn sanft hin und her geschaukelt werden. Ihm wird das Durchkommen zu Ihr aufgrund von Gedränge und Enge unmöglich gemacht, sodass Er die Menge nicht als Ganzes bezwingen kann, sondern sich von einer Person zur nächsten arbeiten muss. Sobald diese unbekannten Personen von Ihm angesprochen werden, drehen sie sich Ihm beziehungsweise dem Publikum zu und zeigen ihr wahres Gesicht.
So trifft Er auf einen Zeitungsleser und eine Verrückte, die Ihn mit Satzfetzen und lautmalerischen Wörtern auf die Komplikationen, die Liebesbeziehungen mit sich bringen können, aufmerksam machen; auf eine aufdringliche, aggressive junge Frau, die Ihm alle Schuld an der Trennung der beiden Liebenden gibt; auf eine Klempnerin, die Ihm hilfreiche Ratschläge gibt und Ihn darauf hinweist, dass häufig Missverständnisse Trennungen zugrunde liegen; auf eine junge Frau, mit der Er in stummer Übereinkunft eine Art Spiel spielt, bei dem die junge Frau die Rolle eines verrückten, arroganten Stars und Er die Rolle eines Reporters übernimmt.
Dann trennt Ihn nur noch ein Hindernis von Ihr: das Individuum, das aus vier verschiedenen Menschen besteht, die alle wie erstarrt dastehen und nur ab und zu hektisch mit den Schultern zucken. Diese völlig verrückt wirkenden Individuen sprechen panisch, verzweifelt und ängstlich von ihrer Krankheit: dass sie immer mehr mit der Masse, mit den anderen verschmelzen. Als ihr Lamentieren den Höhepunkt erreicht, brechen alle „Hindernisse“ zusammen; auch Sie droht zusammenzubrechen, wird jedoch rechtzeitig von Ihm aufgefangen.
Während Er sich bereits wieder glücklich vereint mit seiner Liebsten wähnt, erkennt Sie ihn nicht mehr und steigt aus der U-Bahn aus. So geht Er traurig und verzweifelt davon. Zurück bleibt Sie, die am Bahnhof umhergeht und auf einmal die zu Anfang des Stücks auf ein Plakat gemalten Symbole sieht. Dies sorgt dafür, dass Sie sich wieder erinnert und gerade noch rechtzeitig zu Ihm zurückkommt, bevor Er geht, sodass sich die beiden Liebenden am Ende trotz aller Dramatik doch noch in die Arme fallen können.
Dieses moderne Theaterstück erhielt überwiegend positive Resonanz, besonders, da es „mal etwas ganz anderes“ war, wie eine Zuschauerin meinte. Die nur eine Dreiviertelstunde dauernde, kurzweilige Aufführung war voll von Humor, Dramatik und vor allem etlichem Stoff, der zum Nachdenken anregte.
Und doch steckt so viel mehr hinter diesen Aufführungen: das Umschreiben einzelner Szenen, die Entwicklung der auf dem Papier recht komisch und vor allem unerreichbar wirkenden Rollen, und natürlich auch die Arbeit mit Profis bei den Schultheatertagen in Stuttgart. Und nun herrscht unter den elf Mitgliedern der Theater-AG und deren Leiterinnen zum einen die Freude über drei gelungene Auftritte und die Erfahrungen mit dem Theaterleben, die man gemacht hat, zum anderen jedoch auch eine gewisse Traurigkeit, dass diese wunderschöne Zeit, die in Stuttgart ihren Höhepunkt fand, nun langsam zu Ende geht.fb