Kirchheim. Zu Zeiten, in denen andere Jugendliche nach ausgedehnten Disco-Besuchen oder langen Computernächten nach Hause oder ins Bett schleichen, ist Philip Kienzle schon hellwach und steht in
der Backstube im Industriegebiet Bohnau seinen Mann. Ab 2.30 Uhr hantiert er an der Backstraße mit den Blechen und bäckt frische Brezeln, Brötchen, Brote oder auch süße Stückchen.
Was den 19-Jährigen von fast allen Jugendlichen seines Jahrgangs bundesweit unterscheidet, ist, dass er schon einen Meisterbrief in der Tasche hat. Was vielen Familienbetrieben oft ein Leben lang Sorge bereitet, ist im Hause Kienzle damit fast zu einem Luxusproblem geworden. Können andere oft trotz intensiver Bemühungen über Jahre keinen Nachfolger finden und müssen daher über Generationen geführte Betriebe schließen, stehen bei Peter Kienzle gleich drei Bewerber aus den eigenen Reihen Schlange und garantieren schon jetzt, dass der Betrieb auch in der fünften Generation weitergeführt werden kann.
Neben Philip, der genau zwölf Tage nach seinem 19. Geburtstag seinen Meisterbrief in der Tasche hatte und damit einer der allerjüngsten Handwerksmeister in ganz Deutschland ist, der ab sofort selbstständig einen eigenen Betrieb leiten könnte, lernt auch sein vier Jahre jüngerer Bruder Stefan das Bäckerhandwerk. Den 20 Jahre alten Patrick zieht es dagegen nicht ganz so heftig in die Backstube. Mit seinem Studium der Betriebswirtschaft ergänzt er das in den Startlöchern stehende Team der fünften Kienzle-Generation mit der „Lizenz zum Backen“ ausgezeichnet. Selbst die besten Bäcker haben schließlich nur dann eine Überlebenschance und Gewissheit, nicht am Hungertuch nagen zu müssen, wenn auch das Büro funktioniert und die Bücher stimmen. Besser könnten die drei Brüder also gar nicht für eine gemeinsame Zukunft im elterlichen Betrieb aufgestellt sein.
Dass es kein reines Vergnügen ist, seine Ausbildung im elterlichen Betrieb zu durchlaufen, weiß auch Vater Peter Kienzle, der den Bäckerberuf ebenfalls von der Pike auf im Betrieb seines Vater Werner gelernt hat, gesundheitsbedingt nach der Lehre aber ins Büro wechselte.
Von Heimvorteil könne in den eigenen vier Wänden ganz bestimmt nicht die Rede sein, eher vom Gegenteil. Vom eigenen Sohn würden Väter schließlich immer etwas mehr erwarten als von den anderen Mitarbeitern. Das gelte natürlich auch für einen frischgebackenen Meister, der zwar jetzt eigentlich erst in Ruhe seine übersprungenen Gesellenjahre genießen könnte, andererseits aber doch schon ein ernstzunehmender Meister seines Fachs ist.
Dass sich Sohn Philip für das Bäckerhandwerk entschieden hat und am Ende seiner verkürzten Lehrzeit direkt zur Meisterschule durchgestartet ist, wunderte Peter Kienzle ohnehin, denn der Computer sei stets Philips große Leidenschaft gewesen. Nachdem der Junge aber nicht nur vor seinem Computer hockte, sondern auch immer wieder in der Bäckerei mithalf, spürte er zunehmend, dass ihm dieser Handwerksberuf liegt.
Auch wenn ihm das frühe Aufstehen nicht immer leicht fällt, hat Philip Kienzle die Skepsis seines Vaters längst widerlegt, dass er nicht „aus dem Nest komme“. Er steht zwar nicht wirklich immer gerne so früh auf, aber nach dem in Rekordzeit absolvierten Ausbildungsstress zwischen Backstube, Berufschule und Meisterkurs fühlt er sich inzwischen ganz besonders wohl im familiären Nest der elterlichen „Spezialitäten-Bäckerei Kienzle“.
Einig ist Philip Kienzle mit seinem Vater, dass auch künftig das Beste der Bäckertradition bewahrt werden soll, was aber nicht bedeutet, dass man sich davor scheut, alte Zöpfe abzuschneiden. Dass früher nicht alles automatisch besser war, hat sein Vater in den 90er-Jahren ja schon beispielhaft vorgelebt. Um gegen den von den veralteten Ladenschlussgesetzen sanktionierten Sonntagsverkauf an Tankstellen anzukommen, hatte der ausgeschlafene Bäcker kurzerhand eine „Elektro-Tankstelle“ eingerichtet, weshalb die in der Gaußstraße gebackenen Brötchen als Reiseproviant durchgehen konnten. Heute ist es längst zur Selbstverständlichkeit geworden, dass man überall auch an Sonn- und Feiertagen frische Brötchen bekommt und zwar ohne lange Wegstrecken und frisch aus der Hand eines Bäcker- und nicht eines Kfz-Meisters . . .