Kirchheim. Umso größer war die Spannung der rund 50 Reiseteilnehmer, die sich unter der bewährten fachlichen Leitung von Ralf Sach und geführt von der neu gewählten Vereinsspitze, Denise Glotzbach und Ursula Urban, im Morgengrauen auf den Weg in Richtung Alpen aufmachten. Aus dem ausführlichen Reisebegleitheft, von Ralf Sach mit großem Fleiß zusammengestellt, konnte man entnehmen, dass die Orgelfahrt diesmal nicht in eine Rosinenpickerei ausarten, sondern die ungeschminkte Wahrheit über die Orgelsituation in einer überschaubaren Orgellandlandschaft vermitteln würde.
Nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ lag die erste Station schon im nördlichen Voralpenland westlich der Iller: die weltberühmte Gabler-Orgel in der nicht weniger bekannten Klosterkirche Ochsenhausen. Eine Herausforderung an die Aufnahmefähigkeit der Besucher! Die Erwartungen an die barocke Pracht des vorbildlich restaurierten Instruments, das die Teilnehmer ausnahmsweise auch aus der Nähe der Orgelempore erleben durften, wurden mehr als erfüllt. Doch befremdlich war der Klang: nicht brausend und überwältigend, sondern gewöhnungsbedürftig. Das erlebten besonders die drei Organisten, die das Instrument spielen durften: der Hausorganist Werta, Bezirkskantor Sach und Ernst Leuze. Der Erste tat vertraut, musste aber die ausbleibende Inspiration durch leicht fassliche Formschemata ersetzen. Der Kirchheimer Profi versuchte es mit allerlei Literatur, die das Instrument sozusagen kalt ließ, und Leuze war bemüht, sich improvisierend anzunähern, um schließlich befremdet zu resignieren.
Waren die Erwartungen zu groß, oder die Vorstellungen von barocker Klangwelt unrealistisch? Diese offenen Fragen waren an der nächsten Station, der Orgelmanufaktur Heiß in Vöhringen, schnell vergessen. Da begegneten die Teilnehmer einem Gabler des 21. Jahrhunderts, der allerdings besser rechnen kann als sein barocker Kollege aus Ochsenhausen. Doch an Überzeugungskraft fehlt es beiden nicht im Geringsten. Kaum einer der Reiseteilnehmer würde sich seine Hausorgel nach diesem Besuch von einer anderen Firma bauen lassen.
Ausgestattet nun mit solidem Wissen über das Handwerk des Orgelbaus sahen die Teilnehmer die viermanualige Gerhard-Schmid-Orgel in Sankt Mang, Kempten, mit umso größerer Hochachtung an. Imposanter neunteiliger Prospekt, unerschöpflicher Klangfundus, gepflegtes Ambiente. Ralf Sach schwang sich zu musikalischen Höhenflügen auf von barocker Lieblichkeit über romantischen Rausch bis zu jazzoidem Drive.
Um den Übergang zu der alpinen Region nicht unnötig brüsk ausfallen zu lassen, war die erste Station dort an einem allerdings sehr kleinen Instrument, das jedoch wie seine Sankt-Mang-Schwester aus den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts stammt. Das Örgelchen steht in einer Turm-Emporen-Kammer und ist kaum zu sehen. Was in der Kapelle lieblich klingt, fetzt dem Organisten um die Ohren. Der ließ sich‘s nicht verdrießen. Im Gegenteil, er trällerte so hingebungsvoll, dass manche Besucher außerhalb der Mauern nach Kühen und weiteren Kapellen suchten in Erwartung des alpinen Nachtessens gleich neben der mächtigen Kirche „Maria Opferung“ in Riezlern, wo danach die letzte Orgel-Station sein sollte. Sach und Leuze boten ein vierhändiges Programm auf der gut restaurierten romantischen Behmann-Orgel. Ob der einzige einheimische Besucher so begeistert war wie die Orgel-Touristen, sei dahingestellt. Jedenfalls war das Zahlenverhältnis kein gutes Vorzeichen für die Erlebnisse des darauffolgenden Sonntages.
Der begann in der evangelischen Kreuzkirche von Hirschegg, einer heimeligen protestantischen Trutzburg. Die Orgel von Paul Ott, einem norddeutschen Exponenten der Orgelbewegung, in bewusst nichtalpinem Stil erbaut, gleichwohl in ihrer Form an den Hohen Ifen erinnernd, wurde abwechselnd von den beiden Kirchheimer Orgelvirtuosen traktiert – derart, dass sich die schneeschweren Wolken lichteten und ein makelloses Bergpanorama freimachten.
Da war es gut, einmal nicht von einer Orgel abgelenkt zu sein. In der Bruder-Klaus-Kapelle im Wäldele ersetzten neun Besucher aus der Gruppe, mit Orgelpfeifen aus Kirchheim versehen, die schon immer fehlende Orgel. Das ist unvergesslich für alle, wenn es auch keine Tradition begründen dürfte. Denn Orgeltradition bedeutet im Kleinwalsertal: Desinteresse, Schlamperei, Zerfall, Untergang. Kein einziger Orgelschüler im ganzen Tal! Kirchen wie Instrumente in jämmerlichem Zustand, ob es sich nun um das altehrwürdige Sankt Jodok in Mittelberg handelt oder um Sankt Martin in Baad. Immerhin ist die dortige Orgel von Haaser (1802) ein Juwel, das nur aufgrund seiner äußerst soliden Konstruktion überlebt hat – trotz Verwahrlosung und Vandalismus.
Wer nun gemeint hatte, an der letzten Station, dem Kartäuserkloster Buxheim mit dem weltberühmten Chorgestühl, wieder eine heile Welt vorzufinden, sah sich getäuscht. Zwar ist alles klinisch sauber dort, mit Millionenaufwand restauriert, doch leider auch museal. Und die Orgel, nun schon fast 100 Jahre alt, aus solider württembergischer Tradition (Gebrüder Späth, Mengen), ist eben zeittypisch, grob rumpelnd und ohne die geringste Inspiration. Damit hatte es Ralf Sach zum Schluss bös erwischt. Trotzdem mühte er sich redlich ab, seinen Anvertrauten ein schönes Abschlusserlebnis zu vermitteln. Wenn auf der Heimfahrt im Bus nicht mehr so laut geratscht wurde, lag das weniger am Vorbild der schweigsamen Kartäusermönche von Buxheim, sondern an den überreichen und so widersprüchlichen Erlebnissen dieser Orgelfahrt.el