Das Jahr 2024 ist nicht nur „Superwahljahr“, es könnte dem Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke zufolge zum „Schicksalsjahr der Demokratie“ werden. Albrecht von Lucke ist Redakteur der Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Er ist regelmäßiger Gast in Hörfunk und Fernsehen. Am Dienstag, 7. Mai, spricht er in der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule. Im Vorfeld seines Vortrags haben wir Albrecht von Lucke über die Krisenlage der deutschen und europäischen Demokratie befragt.
Herr von Lucke, Sie sagen, 2024 sei ein Schicksalsjahr für die Demokratie. Insbesondere sehen Sie Herausforderungen durch faschistoide Kräfte. Was kommt auf uns zu?
Albrecht von Lucke: Es sind drei faschistoide Gefahren. Zunächst der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Russland hat sich unter Putin zu einer faschistoiden Kraft entwickelt, die die Ukraine auslöschen will. Die zweite Gefahr ist, dass mit Donald Trump in den USA jemand an die Macht kommen könnte, der eine dezidiert antidemokratische Position erkennen lässt. Und die dritte Kraft ist die AfD. Deren faschistoide Seite halte ich aber für am ehesten zu bewältigen.
Auch bei der Europawahl ist ein Rechtsruck zu erwarten.
von Lucke: Ja, auch innerhalb der EU haben wir es mit tendenziell totalitären Kräften zu tun. Denken wir an Viktor Orban, früher auch an die PiS in Polen oder jetzt an Robert Fico in der Slowakei, die alle einen autokratischen Weg verfolgen.
Aber Polen macht einem doch immerhin Hoffnung!?
In der Tat. Der Wahlsieg von Donald Tusk zeigt, dass man wieder in Richtung Demokratie gehen will. Man sieht dort aber auch, wie schwierig es ist, antidemokratisch deformierte Institutionen wieder zu reparieren. Das aber ist die Frage, die sich auch uns stellt: Was passiert, wenn die Trumps oder Höckes an die Macht kommen? Wie schützen wir unsere Institutionen? Wie ist zu verhindern, dass antidemokratische Kräfte dort die Axt an die Wurzel legen?
Wie wehrhaft ist unsere Demokratie? Wie fällt Ihre Bestandsaufnahmen zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik aus?
Ich halte sie im Inneren durchaus für wehrhaft. Ich glaube, die äußere Gefahr ist gegenwärtig die größere. Der Krieg, aber auch die Globalisierung betrifft uns zentral. Wir müssen die Frage beantworten, wie ein gerechteres und nachhaltigeres Weltwirtschaftssystem auszusehen hätte. Andernfalls werden wir mit Konflikten konfrontiert sein, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.
Zum Beispiel?
Erstens mit einer gewaltigen Klimaerwärmung und zweitens – auch in deren Folge – mit einer Migration von Millionen Menschen nach Europa. Die Konflikte, die wir dann auch auf deutschem Boden erleben werden, könnten das, was 75 Jahre gut geklappt hat, untergraben, nämlich den Zusammenhalt der Bevölkerung und des Landes.
Vor 75 Jahren hat Carlo Schmid der BRD ins Stammbuch geschrieben, dass Krieg kein Mittel der Politik sein dürfe. Heute sprechen wir über Kriegswirtschaft und Kriegstüchtigkeit. Denken Sie, dass Deutschland an seiner Resilienz arbeiten muss?
Ja, absolut. Die Wehrhaftigkeit der Demokratie ist heute in einem ganz anderen Maße herausgefordert. Inzwischen herrscht wieder Krieg in Europa. Wir müssen uns dieser Tatsache stellen. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass der Friede bereits gesichert ist, wenn wir in Deutschland friedlich bleiben, sondern wir müssen anerkennen, dass der Feind von anderer Seite kommen kann. Das verlangt eine fundamental neue Einstellung. Nämlich die Einsicht, dass wir, um wehrhaft zu sein, auch wieder verteidigungsfähig werden müssen.
Die Islamismus-Debatte ist erneut entfacht. Wie schätzen Sie das Gefahrenpotenzial eines reaktionären politischen Islams für die Demokratie ein?
Das größte Gefahrenpotenzial liegt im Verlust republikanischen Zusammenhalts. Wir erleben Tendenzen einer Freund-Feind-Konstellation, die von Reichsbürgern über sonstige Rechts- wie Linksradikale bis zu Anhängern des Kalifats reicht. Ein Konglomerat auseinanderstrebender demokratiefeindlicher Kräfte. Die große Aufgabe besteht darin, aus diesen Fliehkräften wieder ein „Wir“ zu machen. Andernfalls droht der Zusammenhalt der Gesellschaft immer mehr zu erodieren.
Haben Sie Hoffnung, dass wir so ein Wir-Gefühl wieder hinkriegen? Und wenn ja, wie könnte das gehen?
Das ist ungemein schwer, weil die Gedächtnisse, auch die Herkünfte, sich in diesem Land immer mehr verändern. Große Teile der Republik haben mit den alten „biodeutschen“ Ein- und Vorstellungen nichts mehr gemein. Insofern muss es der Politik wie der Gesellschaft gelingen, den so unterschiedlichen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass es gut ist, in Deutschland unter Demokraten zu leben und Konflikte nur im friedlichen Modus auszutragen.
Albrecht von Lucke spricht am Dienstag, 7. Mai, um 19 Uhr in der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule, Boschstraße 28 in Kirchheim. Hauptveranstalter ist die GEW. Anmelden kann man sich per E-Mail an: hans_doerr@gmx.de