Problembewusstsein ist das, was aufflackert, wenn die Politik mal wieder Alarm schlägt. So wie am Dienstag, als Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) „schockierende Zahlen“ vorstellte: 114 000 Fälle von häuslicher Gewalt gegen Frauen gab es im vergangenen Jahr, darunter 147, die für die Opfer tödlich endeten. Allein in Baden-Württemberg starben im vergangenen Jahr 19 Frauen durch Waffen, Schläge oder Tritte von Männern. Das Ministerium verspricht mehr Geld für Frauenhäuser und Hilfenvermittlung: zusätzlich 35 Millionen Euro ab 2020.
In den Beratungsstellen im Kreis kennt man die wiederkehrende Empörung, wenn neue Statistiken vorgestellt werden oder - wie morgen am Sonntag - der Internationale Tag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor der Tür steht. „Wir wissen ja, wann der Bericht herauskommt“, sagt Irmgard Pfleiderer vom Kirchheimer Verein Frauen helfen Frauen. „Überrascht haben uns die Zahlen nicht.“ SPD-Kreisrätin Solveig Hummel spricht von „Alltagsgewalt“, bei der es längst nicht mehr um Einzelfälle gehe.
Drei Frauenhäuser und drei Beratungsstellen gibt es im Kreis. In Kirchheim, Esslingen und Filderstadt stehen 43 Betten zur Verfügung, wenn die eigenen vier Wände keinen Schutz mehr bieten. Die Zahl der Kontakte hat sich seit 2014 fast verdoppelt. Besonders alarmierend: Von den 344 Fällen im vergangenen Jahr waren auch 409 Kinder betroffen. Der Kreis Esslingen mit seinem Angebot gilt im Vergleich landesweit als vorbildlich. Doch selbst hier klafft eine Lücke zu dem, was laut Europarat seit einem Jahr als Empfehlung für die Zahl an familientauglichen Ausweich-Unterkünften gilt: Die sogenannte Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die 28 Staaten - darunter auch Deutschland - unterzeichnet haben, erfüllt auch der Kreis nur zur Hälfte.
Zuschüsse künftig unbefristet
Finanziert werden die Hilfen des Vereins Frauen helfen Frauen durch den Pflichtteil der Sozialhilfe und durch freiwillige Zuschüsse. Der Rest sind Spenden und Projektgelder. 31 000 Euro jährlich schießt der Kreis aus freien Stücken zu, weil man die Frauen sonst nur dort erreichen würde, wo die Polizei Platzverweise ausspricht. Bisher mussten die Zuschüsse nach drei Jahren neu verhandelt werden. Jetzt soll das Geld nach dem Willen aller Fraktionen im Kreistag erstmals unbefristet fließen. Die Linke scheiterte bei der Beratung der Haushaltsanträge im Sozialausschuss mit ihrem Vorschlag, den Betrag auf 60 000 Euro zu erhöhen. Bei der Verteilung der Gelder soll der Bedarf vor Ort künftig stärker berücksichtigt werden, wie Grünen-Sprecherin Margarete Schick-Häberle fordert. Die Fachstelle in Esslingen, die 2017 mit 220 Fällen am meisten gefragt war, weist als einzige ein hohes Defizit aus. Landrat Heinz Eininger betont, man werde „genau hinschauen, wodurch diese Lücke entsteht“, räumte aber gleichzeitig ein, die Fälle seien durch Migration komplexer geworden. Mehr als die Hälfte der Frauen hat einen Migrations-Hintergrund.