Die Textilindustrie brachte im 19. Jahrhundert den Wohlstand ins Land. In Württemberg entstanden so bedeutende Firmen wie Otto in Wendlingen, Plochingen und Reichenbach, Adolff in Backnang, Gütermann in Gutach, Hartmann in Heidenheim, Bleyle in Stuttgart, Leuze und Groß in Urach, Benger in Stuttgart, Eisenlohr in Dettingen an der Erms, Haux in Ebingen, Melchior in Nürtingen, Gaensslen und Völter in Metzingen – in Kirchheim waren es Kolb und Schüle, Hoyler, Battenschlag, Faber und J.J. Müller.
Die Firma J.J. Müller am Nordrand der Stadt nutzte die Wasserkraft der Lauter. Dazu kam, dass die Stadt der Textilbranche mit dem Wollmarkt und dem Arbeitskräfteangebot günstige Bedingungen bot. Ferdinand Rupfer aus Obertürkheim verlegte seine Spinnerei nach Kirchheim. Er nutzte das Gelände, das der Kirchheimer Apotheker Friedrich Breuninger besaß, der Besitzer der Gauppschen Apotheke, die heutige Adlerapotheke.
Breuninger wagte den Sprung in die industrielle Produktion, er verkaufte seine Apotheke an den Apotheker Hölzle aus Leonberg und betrieb mit dem Erlös eine Ultramarinfabrik. Nach Anfangserfolgen und zahlreichen Auszeichnungen kam bereits 1856 der Konkurs. Rupfer verlegte sich ganz auf die Textilindustrie und erweiterte die Wasserkraft von 8 auf 30 PS. 1881 erwarb der aus Tuttlingen stammende Johann Jakob Müller die Firma und führte sie sehr erfolgreich weiter. Seine Spezialität war die Produktion von Cassinet, ein tuchartiges Gewebe mit baumwollener Kette und Einschlag aus Streichgarn.
Neues Turbinenhaus
Die Fabrik wurde laufend erweitert, es kamen ein neues Kesselhaus dazu, ein Dampfkamin, ein Shedbau und eine neue Dampfmaschine mit 24 PS, später ein neues Turbinenhaus mit zwei Francisturbinen. Dazu produzierte die Firma eigenen Strom zur Beleuchtung und Energiegewinnung.
1910 konnte die Besitzerfamilie es sich leisten, ein sehr repräsentatives Wohn- und Bürohaus zu bauen. Man engagierte jetzt den prominenten Architekten Philipp Jakob Manz, der auf der Höhe seines europaweiten Ruhmes stand. Manz, der sein erstes Büro in Kirchheim hatte und später nach Stuttgart umzog, war der weitaus bedeutendste Industriearchitekt Süddeutschlands und des benachbarten Auslands. Fast alle Unternehmer beauftragten Manz mit den Bauten für Fabrik, dazugehöriger Villa und oft auch der Arbeiterwohnungen. Wer Manz sich als Architekt leisten konnte, hatte es geschafft und gehörte zur Spitze der Unternehmer.
Manz entwarf für die Firma J. J. Müller ein großes, originelles, schönes und zweckmäßiges Wohngebäude mit starker Außenwirkung. Die Schauseite wird geprägt von einem mächtigen Walmdach mit Dachhaus und segmentbogenförmigem Giebel, im ersten Stock einem Erker mit Rundgiebel und im Erdgeschoss an der Nordecke von einem ebenfalls gerundeten Vorbau mit Balkon. Das Haus macht auch heute noch einen originellen, repräsentativen und gepflegten Eindruck. Es wurde mehrfach renoviert, es wird vielfach genutzt und steht unter Denkmalschutz.
Die zweite architektonische Meisterleistung von Manz ist der Neubau eines Spinnereigebäudes. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg entwarf der prominente Architekt einen zweistöckigen Backsteinbau entlang der Lauter, gegliedert durch ein umlaufendes Band, große Fenster mit Segmentbogen, in der Mitte ein Zwerchhaus. Der aufwändige Bau spiegelte den erfolgreichen Geschäftsverlauf der Textilfirma wider und ist durch seine Außenwirkung ein wesentliches Element der Repräsentation und Reklame. Da die Fabrik direkt am Wasser steht, brauchte es die ganze Kunst des Architekten. Als gelernter Wasserbautechniker war er ganz in seinem Element. Im Baugesuch wird darauf verwiesen, dass der „Bau . . . mit vollständig massiven Umfassungswänden ausgeführt“ wird, er würde auf die starke und solide Ufermauer aufgesetzt, „irgendwelche Veränderung in wasserbaulicher Hinsicht und irgendwelche Berührung des Wasserbaus findet nicht statt.“

Der Backsteinbau sieht auch noch sehr harmonisch aus. Er gehört zu den ganz wenigen noch existierenden Fabrikbauten von Manz in Kirchheim.
Nach schweren Krisenzeiten der Firma in der Zeit der Weimarer Republik verkauften die Müllers 1930 an den Besitzer eines Elektrizitätswerks, Ludwig Wohlbold aus Nagold. Die Firma nahm einen neuen Aufschwung. Sie wurde eine Volltuchfabrik mit Spinnerei, Weberei, Färberei und Appretur. In den 1950er Jahren beschäftigte sie circa 250 Arbeiter. In den sechziger Jahren geriet sie wie die meisten Textilfirmen in eine schlimme Krise und musste 1962 ihre Produktion einstellen.
Die Gebäude wurden eine Zeitlang von der Bundeswehr und verschiedenen einheimischen Firmen als Lagerraum genutzt, große Teile wurden später abgerissen und das Gelände der Wohnbebauung zugeführt. Erhalten blieben die beiden Manzbauten: das Spinnereigebäude und die großartige Villa.
Sollte durch irgendwelche baulichen Veränderungen der architektonische Eindruck verloren gehen, wäre das ein herber Verlust für Kirchheim.