Kirchheim
Amoklauf in Winnenden und Wendlingen: Als plötzlich die Weltpresse anrückte

Amoklauf Vor 15 Jahren, am 11. März 2009, fielen außer in Winnenden auch in Wendlingen tödliche Schüsse. Erinnerungen an einen Tag, an dem nach der Mittagspause gar nichts mehr normal war. Von Andreas Volz

Die Präsenz in Wendlingen war vor 15 Jahren enorm – auch auch die Präsenz der Presse.       Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques

Es hätte ein ganz normaler Arbeitstag sein sollen. Dann kam vor der Konferenz noch der routinemäßige Blick aufs aktuelle Weltgeschehen – und da war sie, die Eilmeldung: Von einem Amoklauf in Winnenden war die Rede, und zunächst von zwei Toten. Weitere Nachrichten sollten folgen. Mein erster Gedanke: „Jetzt kommt das aber näher.“ Die Erinnerung an Erfurt war noch allzu präsent. Nicht ganz sieben Jahre lag der dortige Amoklauf zurück. Und genau wie 2002 hätte es auch 2009 laufen können: Nachfragen in Kirchheim, beim geschäftsführenden Schulleiter, vielleicht auch bei der Polizei, welche Vorsorge vor Ort getroffen wird, wie sich ein Amoklauf verhindern lässt und wie man im Ernstfall richtig reagiert.

Es hätte nicht der ganz große Artikel werden sollen, eher ein kleinerer lokaler Begleitbeitrag zu dem, was die Ulmer Kollegen für den Mantelteil des Teckboten schreiben würden. Natürlich lag Winnenden deutlich näher an Kirchheim als Erfurt. Aber zum Glück war es immer noch weit genug entfernt, um hier bei uns lokal davon betroffen zu sein.

Der Anruf bei Kirchheims geschäftsführendem Schulleiter ergab denn auch, dass er von dem Vorfall in Winnenden bis dahin noch überhaupt nichts gehört hatte. Also alles nicht ganz so schlimm? Hatte ich es doch vielleicht übertrieben mit meinem Reflex, das Thema möglichst auch im Lokalteil aufgreifen zu wollen? Der Anruf bei der Polizei verlief erst recht ergebnislos: „Der Revierleiter ist gerade nicht zu sprechen. Probieren Sie es doch heute Nachmittag noch mal.“

Mittagspause. Es war ja bis dahin immer noch ein ganz normaler Arbeitstag. Es gab auch nirgends Live-Ticker, die über den aktuellen Aufenthaltsort des Täters berichtet hätten. Es gab auch keinen Grund, sich darüber Gedanken zu machen, ob der Täter Winnenden verlassen haben könnte oder nicht. Eine Flucht vom Tatort gehörte nicht zu den gängigen Mustern solcher Massaker.
 

„Seid ein bisschen vorsichtig“

Allerdings sollten sich in der Mittagspause die Ereignisse überschlagen: Plötzlich war von Wendlingen die Rede, vom Industriegebiet Wert. Weil ich ja schon „am Thema dran“ war, gab es gar keine Frage: Es war meine Aufgabe, nach Wendlingen zu fahren, gemeinsam mit meinem Kollegen Jean-Luc Jacques. In Wendlingen staute sich der Verkehr. Wir parkten unser Auto weit entfernt vom eigentlichen Ort des Geschehens und machten uns zu Fuß auf den Weiterweg. Dann kam ein Anruf aus der Kirchheimer Redaktion: „Seid lieber mal ein bisschen vorsichtig. Es hieß zwar, dass der Täter nicht mehr am Leben sei. Aber das ist noch nicht bestätigt. Vielleicht stimmt es auch gar nicht, und er läuft immer noch rum.“

Das hatte gesessen. Kurz ging es mir durch den Kopf: „Wie bescheuert muss man eigentlich sein, wenn man da jetzt hingeht?“ Aber umzudrehen und wieder zurückzufahren, war trotz allem keine Option. Was sollte ich denn über die Lage vor Ort schreiben, wenn ich nicht selbst dort war? Außerdem musste der Kollege ja auch irgendetwas fotografieren.

Ein großes Polizeiaufgebot hatte den Tatort am 11. März 2009 großräumig abgeriegelt.        Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques

Die Organisation der Polizei im Industriegebiet war hervorragend: Immer wieder gab es Posten, an denen der Presseausweis vorzuzeigen war. In Bälde sollte es außerdem eine erste improvisierte Pressekonferenz geben. Wir waren nicht die einzigen Pressevertreter. Mit den Kollegen aus Esslingen und Nürtingen hatte ich ja gerechnet. Man trifft sich öfters mal. Aber da schien auf einmal die gesamte Weltpresse nach Wendlingen gekommen zu sein!
 

Von allen Seiten Mikrofone

Wir Zeitungsleute waren in der Minderheit. Von allen Seiten Kameras und Mikrofone – unter anderem ein Fernsehteam, das ich als skandinavisch verortete. Norwegen oder so. Dass die schneller in Wendlingen waren als wir von Kirchheim aus! Weit weg können die nicht stationiert gewesen sein.

Viel Zeit für solche Gedanken blieb aber nicht. Kaum hatte der damalige Leiter der Polizeidirektion Esslingen mit seiner offiziellen Stellungnahme begonnen, war ich mitten im Gerangel um die besten Plätze. Mit meinem Schreibblock fand ich mich eingekeilt zwischen schwerem technischem Gerät – und den Leuten, die dieses Gerät bedienten. „Du musst dich durchsetzen, wir brauchen ein gutes Bild“, rief einer der Fernsehreporter seinem Kameramann zu. Dieses „Durchsetzen“ spürte ich mehrfach in meinen Rippen.

Die erschütternde Botschaft ging dabei fast unter: Auch in Wendlingen waren zwei Menschen erschossen worden, bevor sich der Täter schließlich selbst das Leben genommen hatte.

Die Gier nach der exklusiven Nachricht hatte alles überlagert. Und ich war mittendrin. Ich war ein Teil davon. Auch ich brauchte meine Nachricht.
 

Vom „Medienrummel“ bedient

Erst später konnten wir wieder „normal“ reagieren – als Boulevard-Kollegen mehrfach bei uns anriefen, um uns zu fragen, ob wir Ort, Tag und Uhrzeit von Beerdigungen kennen würden. Wir hatten dazu keine Information, und wir hätten sie auch nicht preisgegeben, selbst wenn wir sie gehabt hätten. Vom „Medienrummel“ war ich fürs erste restlos bedient, und ich bin es auch heute noch – obwohl ich vor 15 Jahren selbst meinen Teil dazu beigetragen hatte.

„Normal“ war das nicht mehr. Es war alles andere als normal. Es war ein Arbeitstag, den man nie wieder vergessen kann. Obwohl ich ihn gerne vergessen würde. Ich hätte diesen Tag nicht gebraucht. Niemand hätte ihn gebraucht.