Sein Ruf als Experte für internationale Beziehungen und Konflikte war Andreas Zumach vorausgeeilt, auch ist er in Kirchheim kein Unbekannter mehr: Rund 70 Zuhörer waren ins Katholische Gemeindezentrum St. Ulrich gekommen, um den früheren Schweiz- und UN-Korrespondenten der tageszeitung (taz) mit Sitz in Genf zu hören. Die Deutsche Friedensgesellschaft Neckar-Fils, Pax Christi Kirchheim und die Friedensinitiative Kirchheim hatten ihn zum Thema „Die Rolle Europas in der Weltpolitik“ eingeladen.
Zu Beginn war eine kleine Begriffsklärung nötig: Wer ist mit „Europa“ gemeint? Er werde vor allem über die EU sprechen, sagte Zumach, denn vor allem sie spiele eine weltpolitische Rolle. Die mit 57 Ländern viel größere OSZE spiele sie leider nicht mehr.
„Wenn wir von 45 Jahren Frieden in Europa sprechen, haben wir eine sehr europäische Selbstwahrnehmung“, sagte Zumach. „Dafür hat der ‘Rest der Welt’ einen ganz hohen Preis bezahlt.“ Dazu zählten unter anderem die schlimmen Folgen von Atomwaffentests. Auch die Niederschlagung der Volksaufstände in Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR dürften nicht vergessen werden, ebenso die faschistischen Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal, die sich bis Mitte der 1970er-Jahre erstreckten.
Aufrüstung wäre ein Fehler
Soll Europa, um sein politisches Gewicht zu erhöhen, mehr aufrüsten? „Das wäre ein idiotischer Fehler“, sagte Zumach und verwies als warnendes Beispiel auf die USA. Sie habe vier Jahrzehnte lang zwischen acht und zehn Prozent ihres Bruttonationalprodukts in die Rüstung gesteckt und deshalb andere Bereiche vernachlässigt. Eine Folge sei ihr wirtschaftlicher Niedergang.
Braucht Europa eigene Atomwaffen? Bloß nicht, sagt Zumach. Je mehr Länder solche Waffen besäßen, desto höher werde das Risiko. Es habe mindestens 31 Fälle gegeben, in denen der Atomkrieg extrem nahe war: „Wir haben verdammt Schwein gehabt.“ Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) erhöhe sich das Risiko nochmals. Denn KI habe kein Gewissen wie etwa der frühere Oberst der sowjetischen Armee, Stanislaw Petrow, der bei einem Fehlalarm durch sein Zögern die Welt vor der atomaren Vernichtung rettete. „Wir müssen dabei bleiben, diese Massenmordwaffen aus der Welt zu schaffen.“ Durch einen Verzicht zeige die EU, dass eine Sicherheitspolitik auch ohne möglich ist. Sie gewinne an Glaubwürdigkeit.
Die EU als Vermittlerin
Die EU könnte Vermittlerin sein, sagt Zumach, etwa im Konflikt zwischen Indien und China um die Wasserversorgung. „Hier hat die EU am wenigsten eigene Interessen.“ Sie könne auch im israelisch-palästinensischen Konflikt vermitteln, etwa aktuell für einen Gefangenenaustausch. Und die EU könnte ihre schädliche Außenpolitik beenden. Statt Handelsabkommen mit afrikanischen Ländern zu schließen, die eindeutig zum Vorteil Europas seien, könnte sie anderen Ländern helfen, damit diese endlich die grundlegenden Bedürfnisse ihrer Bevölkerung stillen können – und damit zugleich Fluchtursachen und radikale Gruppierungen in diesen Ländern bekämpfen. Auch könnte die EU aus Sicht des Referenten aufhören, immer mehr Rüstungsgüter zu exportieren. Strengere deutsche Regeln müssten bei länderübergreifenden Kooperationen Vorrang haben. Bei Giftmüllexporten sei die EU bisher genauso schmutzig wie die USA, so Zumach.
Auf was für eine Weltordnung bewegt sich der Planet derzeit zu? Andreas Zumach skizzierte drei mögliche Szenarien. Das schlimmste Szenario sei eine erneut bipolare Welt, diesmal mit der USA auf der einen Seite USA und China auf der anderen. Dadurch würden internationale Einrichtungen wie die UNO blockiert. Die ideale Vorstellung sei eine „G193-Welt“, in der alle zu ihrem Recht kämen. Am realistischsten hält Zumach aber eine multipolare Welt mit sechs bis sieben globalen Akteuren. Dies könnten eventuell China, die USA, die EU, Russland, Indien und Brasilien sein.
Nachdrücklich verwies Zumach auf das Völkerrecht. Die deutsche Außenministerin spreche zwar davon. Doch ihr sehr selektiver Gebrauch – die Anklage von Putin, aber kein Sterbenswörtchen zu Erdogan oder zur israelischen Besatzung – zeige: „Baerbock versteht das Völkerrecht nicht.“