Kirchheim
Arbeitskampf droht: „Wir sind die Basis der Gesellschaft“

Streik Die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst beginnen am heutigen Dienstag. Es geht um 10,5 Prozent mehr Lohn oder 500 Euro monatlich. Ab März kann es Warnstreiks geben. Von Thomas Zapp

Es geht um diejenigen, die im Hintergrund dafür sorgen, dass die Gesellschaft funktioniert. „Immer wenn sie nicht da sind, merkt man, dass es etwas fehlt“, sagt Benjamin Stein, Bezirksgeschäftsführer der Gewerkschaft ver.di Fils-Neckar-Alb, der auch für den Landkreis Esslingen zuständig ist. Seit heute verhandelt die Gewerkschaft mit den Arbeitgebern über höhere Gehälter für die tariflich Angestellten, auszubildende und Praktikanten, die beim Bund oder den Kommunen angestellt sind. 

Zum Verhandlungsstart hat die Gewerkschaft zu einer Presserunde in die Esslinger DGB-Zentrale geladen. Es geht dabei um 10,5 Prozent höhere Gehälter, mindestens aber um 500 Euro pro Monat mehr. Für die Auszubildenden, Studierenden und Praktikanten will die Gewerkschaft rund 200 Euro mehr pro Monat – erstmal für einen Zeitraum von zwölf Monaten.

Für die Beschäftigten der Post verlangt Ver.di 15 Prozent mehr, das habe aber mit dem Lohngefüge zu tun. „Bei der Post liegen 80 Prozent im unteren Lohnsegment“, erklärt Benjamin Stein. Ein Blick auf die Gehaltstabellen zeigt, dass es auch im Öffentlichen Dienst Luft nach oben gibt. Angestellte der Entgeltgruppe 6 kommen nach fünf Jahren auf 3000 Euro Brutto, eine Erzieherin mit S8 auf 3300. Auch Angestellte mit einer hohen Qualifikation, etwa Meister, kommen auf 4200 Euro.

Leasingfirmen als Konkurrenz

Darin liegt eine wesentliche Ursache, warum es gerade jetzt zu Tarifverhandlungen kommen soll, außer Corona-Folgen, Inflation sowie gestiegener Gas- und Lebensmittelpreise. Es ist das Thema Arbeitskräftemangel, über das so ziemlich jede Branche derzeit klagt, den Öffentlichen Dienst aber in besonderem Maße trifft. So gebe es etwa in den Kliniken Angestellte bei Leasingfirmen, die besser verdienen als die Festangestellten und flexiblere Arbeitszeiten haben. „Die können sich die Dienste aussuchen, etwa Wochenenddienste ausschließen, das führt zu viel Unzufriedenheit beim Stammpersonal“, sagt Heike Nitsche, Betriebsratsvorsitzende des Klinikums Esslingen. Doch ohne die Leasingfirmen müssten noch mehr Betten gestrichen werden. „Die Kliniken finden sonst niemanden mehr, es herrscht absoluter Mangel“, sagt sie. Derzeit seien es bei 500 Angestellten in der Pflege schon 25, Tendenz steigend, ergänzt ihr Stellvertreter Dietmar Alsleben.

Das gleiche berichtet Thomas Illsinger von den Esslinger Stadtwerken. „Wir finden keine neuen Leute, vor allem in den unteren Lohngruppen. Es gibt andere Energieversorger, die wohl auch ,anders’ zahlen“, spielt er auf einen privaten Stromanbieter an. Wenn man bedenke, wie wichtig die Wasserqualität sei, müsse man doch dafür sorgen, dass Leute gut bezahlt werden, die sich darum kümmern, meint er. Für Peter Baur, seit 40 Jahren bei der Stadt Esslingen angestellt, ist es frustrierend: „Wir stellen Leute ein, die nach vier Wochen wieder kündigen und in die Wirtschaft wechseln.“ Mit Handwerksbetrieben oder gar Industriefirmen kann die Stadt nicht konkurrieren. Auch die Sicherheit der Anstellung zieht nicht mehr: „Mit Einführung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst gab es einen Knick zu anderen Bereichen der Wirtschaft. Der öffentliche Dienst wurde entwertet“, stellt Heike Kunert vom Verdi-Ortsverein Esslingen fest.    

Heike Nitsche sieht es als ein „gesellschaftliches Problem“, dass es den meisten Menschen nicht bewusst sei, wer für den Luxus einer funktionierenden Gesellschaft zuständig sei. Daher sei das mindeste, dass der öffentliche Dienst 500 Euro monatlich mehr bekomme. „Wir sind die Basis der Gesellschaft“, sagt sie. Auf 14 Milliarden Euro beziffert die Gewerkschaft die Kosten für die Lohnerhöhung. „Dieser öffentliche Wumms ist gut“, ergänzt Benjamin Stein in Anlehnung an die vielzitierten Scholz-Maßnahmen für Bundeswehr und Co. 

Die angespannte Haushaltslage der Kommunen will Jonas Weber, Gewerkschaftssekretär für den öffentlichen Dienst, nicht gelten lassen: Für 2023 sind insgesamt 9,8 Milliarden Mehreinnahmen für die Kommunen prognostiziert. Eine Investition in die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes hält er daher für „angebracht“. Falls die Verhandlungen scheitern, greifen die bekannten Mechanismen, sprich. „Wir werden den Leuten in Esslingen zeigen, was passiert, wenn der Öffentliche Dienst nicht das ist“, sagt Benjamin Stein. 

 

Möglicher Streik im öffentlichen Dienst: Wer, wann, was?

Um wen geht es? Da es im Landkreis Esslingen keine Bundesbehörde gibt, geht es um rund 8000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommunen, die nicht verbeamtet sind. Hinzu kommen mehr als 4000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im öffentlichen Dienst an den Medius Kliniken in Kirchheim, Ostfildern und Nürtingen sowie am Klinikum Esslingen, den Sparkassen, den Stadtwerken und den städtischen Verkehrsbetrieben Esslingen beschäftigt sind. Es gibt im Landkreis Esslingen auch in Einrichtungen der Kirche Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, wie der Diakonie oder der Lebenshilfe. Daher kann auch hier gestreikt werden.

Der Zeitplan sieht so aus: Nach der ersten Verhandlungsrunde am heutigen 24. Januar ist die zweite für den 22./23. Februar sowie die dritte Verhandlungsrunde vom 27. bis 29. März geplant. Sofern Streiks stattfinden, werden die vier bis fünf Tage im voraus angekündigt. Sollten die Gewerkschaftsvertreter Repressalien erfahren, wird die Ankündigungsfrist verkürzt, erklärt Benjamin Stein. Er fordert auch Nicht-Gewerkschaftsmitglieder auf, mitzumachen und nach rauszugehen. Einen „Erzwingungsstreik“ wolle man ausdrücklich vermeiden.

Die Verhandlungen finden auch für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und die Industriegewerkschaft Bauern-Agrar-Umwelt (IG Bau) statt, die sich an den Tarifen des Öffentlichen Dienstes orientieren. Verhandlungsführer sind der ver.di-Vorsitzende Frank Wernecke und Stellvertreterin Christine Behle. Auf Arbeitgeberseite vertreten Innenministerin Nancy Faeser (SPD) den Bund als Verhandlungsführerin sowie die Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen (NRW) Karin Welge als Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (KVA). zap