Da sitzt sie nun in einem „Hühnchen- und Schweinchenbus“ voller Indios. Einen Rucksack auf dem Schoß. Eine ganz andere Welt als auf dem Kirchheimer Schafhof, wo Ursula Hauser normalerweise wohnt. Die ehemalige „First Lady“ der Stadt hat sich auf ein Abenteuer eingelassen. „An meinem 50. Geburtstag hat der liebe Gott mich erwischt“, schmunzelt die 80-Jährige, „aber im Grunde wollte ich schon immer hinaus in die Welt.“
1990 reist sie zum ersten Mal nach Ecuador für vier Wochen. Tochter und Sohn sind flügge, Ehemann Werner willig, sich so lange um Haushalt, Wäsche und Küche zu kümmern. Ursula fliegt nach Guayaquil, sie geht direkt in die Slums im Armenviertel Guasmo. Ärmliche Hütten pressen sich an eine baufällige Mauer, dahinter bescheidene Räumlichkeiten, wo sie ein Gästezimmer bezieht. „Ich habe dann erst einmal mit den Kakerlaken ein ernstes Wörtchen gesprochen“, lacht Ursula Hauser, „dann haben die mein Zimmer tatsächlich in Ruhe gelassen.“
Berührungsängste kennt sie keine. „Ich bin da gleich richtig in die Lebenssituation der Menschen eingetaucht.“ Mitten in den Slums fühlt sie sich von Anfang an zu Hause. Niemals will sie nur Almosen verteilen. Hilfe zur Selbsthilfe leisten, das ist ihr Ziel seit über 30 Jahren. Und dazu will sie erst mal die Mentalität und die Lebensumstände der Menschen in Ecuador verstehen lernen. Ein Crash-Kurs in Spanisch ist der erste Schritt, ein sauberer Putzlappen im Gepäck stets hilfreich. „Wer helfen will, muss die Ärmel hochkrempeln“, so lautet die Devise der Sozialarbeiterin.
25 bis 30 Mal ist Ursula Hauser nach Ecuador geflogen, um Hilfe vor Ort zu leisten. Fast 15 Stunden dauert so ein Flug. Guayaquil ist die größte Stadt des 17-Millionen-Einwohner-Staats im Nordwesten von Südamerika. Im Stadtteil Guasmo herrscht bittere Not. Vor allem Frauen und junge Mädchen haben kaum Chancen auf ein menschenwürdiges Leben. „Männer benutzen sie als Schuhabstreifer“, seufzt Ursula Hauser. Vergewaltigung, Drogenmafia und Bandenkriminalität stehen auf der Tagesordnung. Um 6 Uhr abends wird es ganzjährig dunkel in Guayaquil, denn Ecuador liegt dicht am Äquator. Dann traut sich auch Ursula Hauser nicht mehr allein auf die Straße.
Chance auf ein besseres Leben
Sie watet knietief durch den Schlamm, stapft über Urwaldpfade. Vor allem mit Bussen und Booten besucht sie die Orte, an denen „Hilfe für Guasmo“ mittlerweile arbeitet. In Puerto Napo zum Beispiel betreibt die Hilfsorganisation eine Schule für Schneiderinnen. „Am Anfang konnten die Mädchen noch nicht einmal die Kosten für ihre Stoffe aufbringen“, erinnert sich die Kirchheimerin.
Hinter unzumutbaren Holzverschlägen sind die heutigen jungen Erwachsenen herangewachsen. „Hilfe für Guasmo“ hat ihnen ermöglicht, in gute private Schulen zu gehen und eine Ausbildung zu machen. Als „Stipendiaten“ bekamen sie das Schulgeld bezahlt. Drogen und drohende Kriminalität schrecken viele Eltern davor ab, ihre Kinder in staatliche Schulen zu schicken. Mütter prostituieren sich, um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu finanzieren. Sie sind oft ausgemergelt, krank, kraft- und hilflos. Ursula Hauser weiß, dass sie sich „nichts mehr als Bildung für ihre Söhne und Töchter wünschen“ als Chance auf ein besseres Leben.
Marialorena, Sandra Largo oder Schwester Tomasina Sandri - mit gut ausgebildeten Partnern vor Ort wie ihnen packt Ursula Hauser ein Projekt nach dem anderen an. Alles beginnt mit den „Madres Doroteas“, einem italienischer Nonnenorden in den Slums von Guayaquil. Nie spielt Ursula Hauser die gönnerhafte Señora aus dem reichen Alemania.
Probleme bereitet seit einiger Zeit die politische Entwicklung in Ecuador. Internationale Hilfsorganisationen ziehen sich zurück. Nun greift Kirchheims ehemaliger Oberbürgermeister Werner Hauser ein. Zur Regulierung von Spendengeldern und Aktivitäten gründet er in Ecuador nach dortigen Rechtsvorschriften den Verein „Aprender Al Andar“, was auf Deutsch heißt „Lernen im Vorwärtsgehen“. Damit findet er trotz Auflagen-Wirrwar Wege, die „Hilfe für Guasmo“ fortzuführen.
Mehr als zwei Millionen Euro hat die Kirchheimer Hilfsorganisation seit 30 Jahren in ecuadorianische Schulen, Kinderhäuser und Ausbildungsplätze investiert. Ursula Hauser hat sich 2012 nach 25 Jahren Arbeit aus der Vereinsführung zurückgezogen. Als Ehrenvorsitzende bleibt sie Strippenzieherin im Hintergrund. Das Ehepaar Hauser hat im November letzten Jahres gemeinsam eine Reise nach Guayaquil, Puerto Napo, La Aurora und Salasaca unternommen, an die vier Orte, in denen „Hilfe für Guasmo“ erfolgreich im Einsatz ist.