Kirchheim
Aus „Ueberzeugung“ zur Demokratie

Kriegsende Wie die Kirchheimer im November 1918 den Zusammenbruch des Kaiserreichs erlebt haben: Um jedes Chaos zu verhindern, ruft der Arbeiter- und Soldatenrat zu Ruhe und Ordnung auf. Von Andreas Volz

Große Umwälzungen waren es, die quasi über Nacht für das Ende des Kaiserreichs sorgten. Heute vor hundert Jahren war die „gewaltige Welle“ dieser Ereignisse auch in Kirchheim angekommen, wie der Teckbote anderntags - am Montag, 11. November 1918 - schrieb. Demnach war es am Sonntag „zu einer stark besuchten, von den Vereinigten Gewerkschaften und dem Sozialdemokratischen Verein geführten öffentlichen Versammlung auf dem Roßmarkt“ gekommen.

Hauptredner der Kundgebung war Wilhelm Göft, Mitglied des Gemeinderats. Er erkennt bereits, dass sich „jetzt in ganz Deutschland die Revolution vollzogen habe“, wie ihn der Teckbote in indirekter Rede zitiert. Zwei Hauptforderungen stellt er: „andere Zustände als die bisherigen zu schaffen und zu versuchen, so schnell wie möglich Frieden zu bekommen“. Er ruft zu Ruhe und Ordnung auf - „und daß das Privateigentum nicht gefährdet werde“.

Gesitteter kann es kaum zugehen beim ersten revolutionären Akt in Kirchheim nach dem Ende der Monarchie. Um die Hauptursache für Unruhen auszuschließen, heißt es: Die landwirtschaftliche Bevölkerung müsse „besorgt sein, daß in der Nahrungsmittelversorgung keine Stockung eintritt“. Der Umzug nach der Ansprache demonstriert die Bereitschaft, Ruhe zu bewahren und Chaos zu vermeiden. Kommentierend lobt der Teckbote, „wie ruhig alles verlief und wie durchweg die Ordnung und gute Haltung bewahrt wurde“. Die Zeitung glaubt fest daran, es werde „auch die kommende Entwicklung genauso geordnet sich vollziehen wie die gestrige Versammlung, welcher Achtung nicht zu versagen war“.

Unteroffizier Christian Közle schreibt in einem Leserbrief, es sollten sich auch Beamte und Offiziere der neuen Bewegung anschließen, „die sich, so hoffen wir, sicher nicht in Einzelaktionen zersplittern wird, sondern auf ein einiges demokratisches Deutschland hinarbeiten wird“. Ob Közle nur Höherrangige meint, wenn er „wir“ und „uns“ sagt, ist nicht ganz klar. Noch besser ließen sich seine Worte aber auf alle Deutschen beziehen: „… uns muss jetzt dahin vertraut werden, daß wir tatsächlich umgelernt haben, daß wir nicht notgedrungen mithelfen, sondern aus Ueberzeugung.“

Ein weiterer Leserbrief - unterzeichnet mit „Eine deutsche Frau“ - erscheint am Mittwoch, 13. November 1918. „Ueber Nacht ist uns das große Geschenk des Frauenstimmrechts in den Schoß gefallen“, heißt es. Egal, wie eine Frau zu diesem Thema stehe, viele Frauen hätten „wider ihren Willen längst in harter, ausdauernder Arbeit, seis daheim, seis im Gemeindedienst, den Beweis erbracht, daß sie vollauf es wert und reif dazu sind, die Angelegenheiten des Vaterlandes mit zu bestimmen“. Das Vaterland brauche die Frauen, „ihren praktischen Blick, ihre linde Hand, ihr feines Gefühl in Fragen des Rechts“.

Nicht alles verlief damals in friedlichen Bahnen. Es gab auch Unruhen in Kirchheim: Vier Soldaten sollen Schaufenster im Kaufhaus Bernstein zerstört und zu diesem Zweck etliche Handgranaten gestohlen haben. Aber sie werden kurz nach der Tat bereits dingfest gemacht. Der ordentlich gewählte Arbeiter- und Soldatenrat bewegt sich „im Rahmen der Gesetze und Regierungsverordnungen“, wie der Teckbote am 15. November 1918 feststellt. Am selben Tag erlässt der Rat eine Bekanntmachung, „nach der die Polizeistunde auch weiterhin auf 10 Uhr abends festgesetzt bleibt“. Auf 10.30 Uhr nachts wird die „Räumung der Straßen“ angeordnet.

Soldatenrat „ladet höflichst ein“

Diskutieren lässt sich im „Lohrmann(s)-Saal“ oder „im Saal der Bierbrauerei Sonne“. Eingeladen sind „Beamte, Lehrer und Angestellte beiderlei Geschlechts über 18 Jahre“ oder auch - von der Fortschrittlichen Volkspartei - alle „Mitglieder der Mehrheitsparteien“. Sergeant Rueß, der Vorsitzende des Kirchheimer Soldatenrats, spricht am Sonntagnachmittag, 17. November 1918, auf einer „grossen Volks-Versammlung“ über das Thema „Unsere Gegenwartsaufgaben“. Der Appell zum Besuch der Versammlung, den Wilhelm Göft unterzeichnet, ist zwar eindringlich. Aber trotzdem sucht man vergebens nach dem revolutionären Duktus. Am Schluss der Anzeige heißt es nämlich: „Zu einem Massenbesuch ladet höflichst ein - Arbeiter- und Soldatenrat“.