Kirchheim
Ausbeutung als das kleinere Übel

Pflege Geflüchtete ukrainische Frauen sind häufig bereit, für Dumpinglöhne zu arbeiten. Experten der Branche fürchten, dass ihr Schicksal den Schwarzmarkt noch mehr als bisher blühen lassen könnte. Von Bernd Köble

Wo Worte fehlen, hilft die Technik. Was heißt Apfel auf Ukrainisch? Die App auf Hermann B.s Smartphone weiß es. Der 73-Jährige spricht seinen Wunsch ins Mikrofon, während Irina neben ihm auf die Übersetzung wartet. Beide lachen. Irinas Deutsch ist besser geworden, Hermann beherrscht inzwischen ein paar Brocken Ukrainisch. Der Technik sei Dank. Hermann B. ist Witwer, lebt in Kirchheim im eigenen Haus und kommt seit einem Schlaganfall nicht mehr alleine zurecht. Seit vergangenen Sommer hilft ihm Irina. Rund um die Uhr, auf legale Weise angestellt, schon lange bevor der Krieg ihre Heimat erreichte.

Für Uta Kümmerle, die einst in Bissingen lebte und mit ihrer Agentur in Esslingen heute Pflegekräfte in ganz Süddeutschland vermittelt, könnte so die Zukunft aussehen. Hermann und Irina haben sich durch sie gefunden. Die junge Ukrainerin ist eine von nur wenigen Frauen aus dem heutigen Kriegsgebiet, die bei ihr unter Vertrag stehen. Mehr als 100 Osteuropäerinnen sind es insgesamt. Die, die aus der Ukraine stammen, leben schon länger in Polen und haben dort die doppelte Staatsbürgerschaft. Dabei drängen Pflegekräfte aus der Ukraine hier schon lange auf den Arbeitsmarkt. Bisher meist illegal, denn anders als ihre Kolleginnen aus Polen oder Ungarn benötigen sie ein Visum und haben keine Arbeitserlaubnis. Viele sind bei Agenturen in osteuropäischen Ländern registriert und nutzen so den Zugang aus einem EU-Drittstaat. Die Verträge rechtssicher zu prüfen, sehen sich viele seriöse Anbieter in Deutschland allerdings nicht in der Lage. Sich häufende Berichte über Razzien haben deshalb zum Appell geführt: Finger weg.

Seit die EU nach dem russischen Einmarsch ins Nachbarland die Regeln gelockert hat, ist das anders. Die Umsetzung der sogenannten EU-Massenzustrom-Richtlinie hat dazu geführt, dass Geflüchtete aus der Ukraine bis zu drei Jahre visumsfrei bleiben und auch hier arbeiten dürfen.

Nicht nur Uta Kümmerle weiß, dass die Zeit drängt. Experten fürchten, dass bewährte Kräfte aus Osteuropa hierzulande preislich vom Markt verdrängt werden könnten. „Wir brauchen jetzt schnell klare Angebote und eine eindeutige juristische Grundlage“, richtet Kümmerle ihre Forderung an die Politik. Die Furcht, dass die Not der Frauen, von denen viele bereit sind, für Niedrigstlöhne zu arbeiten, ausgenutzt wird, ist begründet. Schließlich blüht der Schwarzmarkt in der Pflege schon seit vielen Jahren. Etwa 90 Prozent der Hilfskräfte in der 24-Stunden-Betreuung sind nach Schätzungen von Experten und Verbänden hierzulande illegal beschäftigt und kaum ausgebildet. Daran hat auch das Urteil des Verfassungsgerichts, das seit Sommer 2021 Mindestlohn und Grenzen für Arbeitszeit vorschreibt, nichts geändert. Die Politik schaut zu und schweigt, weil beide Seiten die Verhältnisse mehrheitlich akzeptieren und das System seit vielen Jahren mehr oder weniger funktioniert. 

Doch durch die Situation in der Ukraine wächst die Gefahr für Ausbeutung im großen Stil rasant. Während der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) einen Mindestverdienst von 1400 Euro netto monatlich für osteuropäische Pflegekräfte als Richtschnur setzt, arbeiten ukrainische Frauen nicht selten für die Hälfte – und das ohne klare Regeln. Größtes Hemmnis auf dem Weg in ein legales Arbeitsverhältnis ist die Sprache. „Jüngere beherrschen oft ein wenig Englisch, beim Deutschen beginnen alle bei null“, weiß Uta Kümmerle aus Erfahrung. Bei Linara Faircare in Berlin, einem der größten Vermittler in faire und legale Pflegejobs, mit dem sie zusammenarbeitet, hat man das Angebot für Online-Sprach- und Pflegekurse inzwischen kräftig ausgeweitet. „Was wir am Anfang brauchen, sind Familien, die bereit sind, sich darauf einzulassen und den Frauen Zeit zu geben, um die Sprache zu erlernen“, sagt sie und ist überzeugt: „Man unterschätzt den Anteil an Pflegebedürftigen, die dafür offen sind. Man muss sie nur finden.“

Bereit zu allem – für wenig Lohn

Einen Arbeitsplatz in der Pflege zu finden, war für viele Menschen in der Ukraine schon lange vor Beginn des Krieges ein Thema. Umfragen polnischer Personalagenturen haben bereits 2020 ergeben, dass 60 Prozent der Ukrainer, vor allem Frauen, bereit wären, das Land zu verlassen, wenn sich der Arbeitsmarkt in Deutschland für sie öffnet.
Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) geht davon aus, dass im Moment bis zu 300 000 Ukrainerinnen bereit wären, für weniger als die Hälfte des üblichen Gehalts und unabhängig von Arbeitsplatzbedingungen hier zu arbeiten, um ihre Familien in der Heimat ernähren zu können. bk