Kirchheim. War das jetzt ein Crash-Kurs in Sachen Bürgerentscheid? Ein Stück weit schon, aber eigentlich war es mehr. Ging es um Kirchheim? Ganz klar nein, auch wenn in der Einladung „Mehr Demokratie in Kirchheim“ stand. Dr. Edgar Wunder, Landessprecher von „Mehr Demokratie“, erzählte im Büchereisaal der Stadtbücherei von etlichen Projekten, von den rechtlichen Fallstricken und vom Nutzen für die Demokratie, wenn Bürger öfter direkt mitentscheiden. Eingeladen hatten ihn Ute Dahner und Heinrich Brinker, die für „Die Linke“ im Kirchheimer Gemeinderat sitzen. Dr. Wunder ist Dozent an den Universitäten Heidelberg und Bochum und ausgewiesener Kenner des Kommunalverfassungsrechts.
Erst mal die rechtliche Seite. Grundlage ist der Paragraf 21 der Baden-Württembergischen Gemeindeordnung. Wenn Bürger unzufrieden sind mit einer Entscheidung ihres Gemeinderates oder wenn sie eine eigene Idee zur Abstimmung stellen wollen, steht ihnen danach das Instrument eines Bürgerbegehrens zur Verfügung. Sind genug Unterschriften für ein Bürgerbegehren zusammengekommen, kann es zu einem Bürgerentscheid kommen. So weit, so klar. Der Teufel steckt aber im Detail. Es gibt eine ganze Reihe von formalen Gründen, ein Bürgerbegehren abzublocken. Das musste zuletzt in Kirchheim 2016 die Initiative zur Anschlussunterbringung von Geflüchteten erfahren. Das benötigte Unterschriften-Quorum - sieben Prozent der wahlberechtigten Bürger - wurde locker überschritten. Trotzdem hatte der Gemeinderat das Bürgerbegehren für unzulässig erklärt. Argumente waren damals unter anderem der fehlende Vorschlag zur Kostendeckung sowie die Einengung der Handlungsfreiheit für die Stadt Kirchheim. Bestätigt wurde das letztlich vom Verwaltungsgericht Stuttgart. Aktuell größtes Projekt im Land ist der SPD-Antrag auf ein Volksbegehren zur Abschaffung der Kita-Gebühren. Das Innenministerium hatte abgelehnt, jetzt liegt es dem Landesverfassungsgericht zur Entscheidung vor. Das Urteil steht noch aus.
Edgar Wunder empfiehlt eindringlich, sich mit dem Verein „Mehr Demokratie“ in Verbindung zu setzen und kostenfrei beraten zu lassen. Und er nennt auch Zahlen: „Ohne Beratung sind 80 Prozent der Bürgerbegehren ungültig, mit Rechtsanwalt immer noch 50 Prozent, und wenn wir dabei sind, nur noch 10 Prozent.“ Klingt gut, aber natürlich auch ein bisschen nach Eigenwerbung.
Der Verfechter der direkten Demokratie befasst sich auch mit den Argumenten, die gegen Bürger- oder Volksentscheide sprechen. Da ist die Angst vieler Volksvertreter, dass solche Entscheidungen „den Haushalt ruinieren“. Nach seinen Untersuchungen lässt sich das nicht belegen. „Im Gegenteil“, meint der Wissenschaftler, „den Gemeinden mit viel Bürgerentscheiden geht es unseren Untersuchungen nach finanziell besser.“ Wäre ein weiteres beliebtes Argument: die Schwächung der repräsentativen Demokratie. Auch das, meint er, lässt sich nicht belegen. „Wenn Politiker sich aufgrund von Bürgerbegehren mehr überlegen, mehr Gespräche führen, mehr Kompromisse eingehen, stärkt das eindeutig das Vertrauen in die gewählten Vertreter.“
Schließlich noch ein gewichtiges Argument: Bürgerentscheide als Plattform für Populisten. „Das ist völliger Quatsch“, meint er bestimmt, „es gibt keine Partei, die weniger in Sachen Volksabstimmung macht, als die AfD.“ Es gebe drei Faktoren, die Menschen zu populistischen Parteien treiben. Das seien die sozialen Verwerfungen, die Mitbestimmungsdefizite und die pure Fremdenfeindlichkeit. In der Gewichtung steht die Partizipation deutlich an erster Stelle. „Und da können wir mit mehr Bürgerbeteiligung ansetzen, da lässt sich am meisten bewegen“, ist sich Wunder sicher. Also auf die Menschen zugehen, sie ernst nehmen und nicht nur zuhören, sondern sie mitentscheiden lassen. Da wird es am Ende seiner Ausführungen richtig dramatisch: „Das könnte eine Überlebensfrage für die liberale Demokratie werden.“ Von Günter Kahlert