Kirchheim. „Die moralische Abwärtsentwicklung des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit, das fast dürstige Aufsaugen der falschen Ideale mit all ihren scheußlichen Folgen beweisen, wie hörig ein Volk werden kann, dessen Gliedern die Möglichkeit genommen ist, selbst zu denken.“
Diese Sätze stammen nicht aus einem Rückblick auf die NS-Zeiten, sondern sind ein hellsichtiger Tagebucheintrag vom 6. Januar 1942. Dieses Tagebuch hat Anna Haag, geboren als Lehrerstochter 1888 in Althütte, unter strengster Geheimhaltung während des Zweiten Weltkrieges verfasst. Erst in diesem Jahr ist der vollständige Text von fast fünfhundert Seiten bei Reclam erschienen. Grund genug für den Literaturbeirat, die im Ländle aufgewachsene Anna Haag durch eine Veranstaltung zu würdigen. Bestens geeignet dafür war Doris Rothmund, promovierte Germanistin. Anna Haag liegt der Referentin schon deshalb nahe, da sie in Sillenbuch lebt, in unmittelbarer Nachbarschaft des Wohnhauses der Tagebuchschreiberin und deren Gedenkstätte.
Auch Bücher haben ihr Schicksal, die Tagebücher der Anna Haag ein ganz besonderes. Während der NS-Zeit blieben sie versteckt. Nach dem Krieg stellte die Autorin ein Typoskript des Textes her, fand aber keinen Verleger. Bruchstücke erschienen in eigenen und fremden Publikationen, bis ausgerechnet ein englischer Germanist, Edward Timms, 2019 eine Würdigung Anna Haags mit Zitaten aus dem Tagebuch veröffentlichte und ihr damit die Aufmerksamkeit der literarischen Welt verschaffte.
Nun liegt also das ganze Werk vor. Doris Rothmund würdigte zuerst das Tagebuch als literarische und geistige Form: „Das Tagebuch erweitert das Gedächtnis.“ Es ist „eine Form der inneren Abwehr“. Anna Haag war über die Taten der Nazis informiert. Ihr Ehemann Albert hat sie dabei unterstützt. Sie hörte Feindsender wie die BBC. Daneben nahm sie aufmerksam ihre Umwelt wahr, alles, was die Leute sprachen und erzählten. Sie diagnostizierte bei ihren Mitmenschen ein Nebeneinander von eigentlich Unvereinbarem, von humanem, gefühlvollem Privatleben und gleichzeitig unmenschlichem, rassistischem Denken.
Schwieriger wird es bei der Frage: Was soll ich tun? Hier räumt die Tagebuchschreiberin ein, dass es in den Kriegszeiten keine Handlungsmöglichkeiten gab. Hätte man, wie von der BBC geraten, aktiv Widerstand geleistet, wäre man sofort ein Todeskandidat gewesen. Hoffnung setzt sie auf Gott und den Sieg der Alliierten, damit es bei der künftigen Definition des Menschentums keine „Untermenschen“ mehr gibt. Eine Kollektivschuld wäre nach Anna Haag nicht sachgemäß, für sie werden die Verbrechen von Individuen begangen. Nach dem Krieg verwirklichte Anna Haag ihren Vorsatz, an einem besseren Deutschland mitzuarbeiten. Vor allem die Frauenrechte, ihr zweites Anliegen neben dem Pazifismus, rücken in den Mittelpunkt. Sie ist Vorsitzende des Stuttgarter Ablegers der Frauenliga. Sie wird Landtagsabgeordnete der SPD. Sie bringt einen Antrag ein für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, der Eingang findet in das Grundgesetz. Sie erbaut in Bad Cannstatt das Anna-Haag-Haus als Zufluchtsort für alleinstehende Frauen in Not, heute ein Mehrgenerationshaus.
„Das war beeindruckend“, fasste Gastgeberin Barbara Haiart den Eindruck des Referats für sich und auch fürs Publikum zusammen. Auch wenn für weitere Zitate aus dem Buch keine Zeit mehr war, gelang es der Referentin nachdrücklich, auf eine Frau mit großartigem Format aufmerksam zu machen.Ulrich Staehle