Auf unberührtem, weißem Papier arbeitet Bertl Zagst nicht gerne. Viel lieber sind ihm collagierte Seiten, übereinander geklebte Briefumschläge, gewellte Blätter, Folien, Textilien oder alte Holzbrettchen: Im Malprozess schätzt der Esslinger Künstler den Impuls des Materials und einen Widerstand, der ihn herausfordert: „Wenn die Struktur eine Längsrichtung vorgibt, muss ich quer oder diagonal dagegenhalten.“ Wenn Farbschmierereien das Blatt zieren, baut er sie als Struktur ein. Wenn Falze die Seite knicken, nimmt er diesen Rhythmus auf. Wenn eine Fuge, ein Astloch oder ein Nagel das Holz prägen, nutzt er das als Inspiration.
Was von der Norm abweicht, was nicht geradlinig ist und woran andere oft achtlos vorbeigehen, das ist für Zagst einen Blick wert. „Roses Tücher“ heißt eine Serie. Herr Rose hat einst Zagsts elterliches Haus gestrichen und überließ ihm seine beklecksten Abdecktücher: „Diese Farbreste, Flecken und Verkrustungen – was sehe ich in ihnen? Was könnte ich daraus entstehen lassen?“, fragt Zagst und macht einen Streifen zum Horizont, einen grünen Flicken zu einem Garten, eine braune Verfärbung zur Wüstenlandschaft.
Ein vielseitiger Bildhauer
Seine Bildideen entwickelt er meist über längere Zeiträume hinweg in einem konzeptionellen Prozess als Serien und Zyklen. Bertl Zagst ist von Haus aus Bildhauer, technisch jedoch vielfältig versiert: Er zeichnet und malt, mag dabei die Mischtechnik mit Leim, Binder, Pigmenten, Gouach- und Aquarellfarben, Bleistiften, Kreiden oder auch mal mit konzentriertem Malventee-Blau. Seit seiner Kindheit schreibt, zeichnet und malt er regelmäßig in kleinformatige Skizzen-, Notiz- und Tagebücher „was mir gerade durch den Kopf geistert“. Er schafft Radierungen, und er gestaltet Skulpturen aus Ton, Gips, Karton, Holz und Metall: Die große Metall-Plastik „Wreck“ in Klein-Venedig, die schräg im Esslinger Rossneckar
liegt, erinnert an all jene Menschen, die per Boot ihr Heil in der Flucht suchen. Der „Wegweiser“ auf dem Filderkunstpfad sucht Orientierung. Und die „Schwebungen“ aus filigran verschachtelten Kartonteilen fügen sich zu üppigen Gedankenräumen. Skizzen reichen ihm dabei zur Vorbereitung nicht: „Ich muss in die dritte Dimension, ich muss ein Modell bauen, aus Papier, aus Karton, aus Gips oder aus Ton“, erklärt Zagst.
Neben der ästhetischen Idee steckt hinter Zagsts Arbeiten häufig ein präziser Blick auf gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen: Für die „Corona-Letters“ hat er in der Pandemie Kuverts von privaten Briefen, Rechnungen und Werbung aus seiner Post gesammelt, aufgeschnitten, aufeinandergelegt, arrangiert, gebügelt und mit Kreide, Grafit und Aquarellfarben zu monochromen Reliefs gestaltet. Auf vielen seiner kreativ bearbeiteten Fundstücke zeugen Gebrauchsspuren, abblätternde Farbe oder Kratzer von Zerstörung und Zerfall. Das Motiv des Floßes ist für Bertl Zagst auch ein Symbol der aktuell viel beschworenen Zeitenwende: „Bricht das ganze System irgendwann auseinander? Habe ich dann noch die Möglichkeit, mich auf ein paar zusammengenagelte Brettchen zu retten?“
Alte Kompressen und gebrauchte Apfelkisten
Zagst schätzt Materialien mit einer Geschichte: Alte Kompressen und Verbandpäckchen, ausgediente Kartons, Planken, gebrauchte Apfelkisten setzt er in neue formale Zusammenhänge. Immer regt er den Betrachter dazu an, genau hinzuschauen und sich für seine eigene Geschichte zu interessieren: Wo bin ich? Wo finde ich mich in diesem Bild? Viele seiner Gemälde wirken beiläufig. Nur wer genau hinschaut, sieht den Fisch, der sich einen Schwimmer schnappt. Nur wer die Arbeiten akribisch mit Blicken abtastet, erkennt den Witz im Ernst der Lage. Auf Zagsts Bildern finden sich oft schriftähnliche Zeichen, Wortfetzen, Ornamente aus einer fremden Schriftsprache, oft unleserlich, zerfließend, weil sie in die noch feuchte Farbe hineingeschrieben wurden. Es scheint, als schreibe er sich damit die Gedanken von der Seele. „Der Text ist mein Text: Ein anderer kann ihn nicht nachvollziehen, er ist eine Spur, die ich hinterlassen habe.“
Gemälde, Konzeptkunst und Skulpturen
Bertl Zagst, 1951 in Kirchheim geboren, hat an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste Kunst und an der Uni Stuttgart Kunstgeschichte studiert. Er war Kunstlehrer am Gymnasium Neckartenzlingen sowie Kunst- und Werklehrer im Auslandsschuldienst in Kairo. Zagst leitete viele Jahre künstlerische Projekte in Marokko und unternahm Studienreisen in den Orient, in den Maghreb und in die Levante. Ab 1995 war er bis zum Ruhestand 2017 Kunstlehrer am Esslinger Georgii-Gymnasium. Heute lebt und arbeitet er in Esslingen.
Noch bis zum morgigen Samstag ist in der Gemeindebücherei in Lenningen zu den üblichen Öffnungszeiten die Ausstellung „Aus dem Bestand“ mit Arbeiten von Bertl Zagst zu sehen. Bei „Steiner am Fluss“ im Bruckenwasen 11 in Plochingen sind bis zum 6. Juli Bertl Zagsts „Resiliente Geschichten“ täglich von 11.30 bis 18 Uhr zu sehen. Und bis zum 30. Dezember ist im Museum für Papier- und Buchkunst im Schlössle in Lenningen seine raumfüllende „Schwebung“ aus Pappe ausgestellt. Geöffnet ist die Schau samstags von 10 bis 12 Uhr und sonntags von 14 bis 17 Uhr. gw