Festhalten, was eigentlich unfassbar ist, Missstände dokumentieren und den Opfern ein Gesicht geben. Das ist Aufgabe von Fotoschaffenden in Krisengebieten überall auf der Welt. Der in Kirchheim geborene Fotograf Murat Türemis ist seit drei Wochen in den vom Erdbeben in der Türkei am stärksten betroffenen Städten unterwegs. In Hatay und in Antakya, dem alten Antiochia mit seinen zahllosen Kulturschätzen. Rund fünf Stunden dauert der Flug von seinem Wohnort Berlin in den südöstlichsten Zipfel des Landes, nahe der syrischen Grenze. Fünf Stunden bis in eine Welt, die sich am 6. Februar binnen weniger Minuten in einen Alptraum verwandelt hat. Türemis ernährt sich von Konserven und nächtigt im Schlafsack auf der Rücksitzbank seines Autos. Weil es
Unterkünfte in der Stadt mit rund 400 000 Einwohnern kaum mehr gibt, aber auch, weil die Erde noch immer nicht zur Ruhe kommt. Türemis, der Einwanderersohn, der mit seiner Familie in Dettingen aufgewachsen ist, ist näher dran, als viele seiner Kollegen. Das Land, das leidet, ist die Heimat seiner Eltern. Hier leben noch immer Verwandte. Er hat Freunde im Erbebengebiet, und er spricht die Sprache der Menschen, von denen fast jeder Angehörige verloren hat. Mit seinen 58 Jahren hat er schon viel Leid mit der Kamera einzufangen versucht, doch die Bilder, die er hier findet, gehen auch ihm nur schwer aus dem Kopf.
Das des 27-jährigen Furkan aus Karamanmaras. Stille Verzweiflung, eingefangen in einer Wüste aus Stein und Beton. Es sind die Überreste mehrerer zehnstöckiger Wohnblöcke, unter denen Helfer die Leichen seiner Frau, seiner Schwester und seines zweijährigen Sohnes geborgen haben. Der bunte Plüsch-Teddy, der sich an Furkans Schultern festzukrallen scheint, wirkt surreal im tristen Grau der Trümmerlandschaft. Er ist das, was ihm geblieben ist, und er scheint in diesem Moment, in dem Murat Türemis unbemerkt den Auslöser drückt, das einzige zu sein, das Trost spendet. „Er sprach nicht viel. Der Teddy war fast so groß wie er selbst,“ sagt Türemis. „Dieses Bild werde ich nie mehr vergessen.“
Als Türemis vor wenigen Tagen im Zentrum von Antakya gerade dabei ist, sein Kamerastativ abzubauen, bebt die Erde erneut. Es ist eines von zahlreichen Nachbeben, die nur wenige Sekunden dauern, für die Retter und Menschen vor Ort aber zur lebensbedrohlichen Gefahr werden. Trümmer geraten plötzlich in Bewegung, die Mehrzahl der Gebäude, die noch stehen, sind akut einsturzgefährdet. „Es ist, als wolle uns die Erde wachrütteln,“ schildert Murat Türemis, was ihm in solchen Augenblicken durch den Kopf schießt. Er weiß: Vieles von dem unfassbaren Leid, das ihn umgibt, wäre vermeidbar gewesen. Die Katastrophe ist menschengemacht. Häuser aus schlechtem Beton, zahllose Gebäude ohne solides Fundament. „Wenn man Regeln befolgt, sind solche Beben keine Gefahr,“ sagt Türemis und schildert die Wut, die hier bei allen, mit denen er redet, spürbar ist. Fast täglich gibt es neue Festnahmen durch die Polizei. Korruption und das Inkaufnehmen von Baumängeln haben inzwischen zu rund 200 Verhaftungen im ganzen Land geführt. Darunter allerdings auch zahlreiche Journalisten, denen die Regierung vorwirft, Falschmeldungen zu verbreiten.
Was nach der Katastrophe kommt, ist die zentrale Frage, die sich Murat Türemis stellt und die er beantworten will. In dieser Woche geht sein Rückflug. Die erste Fotostrecke hat er an seinen Auftraggeber, den Stern in Hamburg, verschickt. Er wird wiederkommen. Wohl noch viele Male. „Das Thema wird mich lange beschäftigen“, sagt er. Was aus den Menschen wird, die in Zelten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf dem nackten Boden nächtigen, ohne Strom und sanitäre Versorgung. Türkische Hilfsorganisationen verteilen Essen. Von ausländischen Helfern, sagt er, sei zumindest hier im völlig zerstörten Antakya wenig zu sehen. Womöglich ist das so gewollt, denn die Regierung in Ankara wacht mit Argusaugen über jedem, der ins Land kommt. In eine Region, in der mit einer Minderheit aus Christen und arabischstämmigen Aleviten vor allem Oppositionelle leben.
Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft werden die ausländischen Helfer verschwunden, das Interesse abgeebbt und die Bilder im Fernsehen durch andere verdrängt sein. Murat Türemis will dann noch da sein. Mit seiner Kamera.
Nah dran am Leid der Schwächsten
Murat Türemis (58) ist in Kirchheim geboren und in Dettingen aufgewachsen. Nach dem Abitur am Kirchheimer Wirtschafsgymnasium studierte er Visuelle Kommunikation an der FH Dortmund und an der Parsons School of Design in New York. Er lebt seit Langem in Berlin und arbeitet als freier Fotograf für Magazine wie Stern, Focus, Spiegel und die türkische National Geographic.
2005 gewann Murat Türemis den zweiten Platz beim europaweiten Wettbewerb One Vision European Photographic Competition mit einer Fotoreportage über aidskranke Waisenkinder im thailändischen Baan Gerda. Türemis berichtete unter anderem über den Irakkrieg und das Elend der Flüchtlinge im Mittelmeer. Zuletzt waren seine Arbeiten Teil einer Spiegel-Reportage über das Schicksal kranker Kinder im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Türemis hielt sich dazu mehrere Monate im Lager auf und knüpfte engen Kontakt zu Familien mit Kindern. bk