Kirchheim
Boris Palmer in Kirchheim: „Der Zwang zu tabuisieren nimmt ab“

Debatte Der Star des Abends kommt mit dem Fahrrad: Boris Palmer diskutiert in Kirchheim über Flüchtlingspolitik in den Kommunen. Von Thomas Zapp

Boris Palmer im Gespräch mit dem Teckboten: Ein Ausschnitt ist auf dem Instagram-Account des Teckboten zu sehen. Foto: Tobias Tropper

Der Ruf, unkonventionell zu sein und gerne mal provokante Thesen zu vertreten, eilt ihm voraus. Vermutlich hat er ihm auch die Einladung zur Podiumsdiskussion „Flüchtlingshilfe in der Kommune – Möglichkeiten und Grenzen“ in der Kirchheimer Thomaskirche verschafft, berührt sie doch ein heikles Thema, zu dem neue Antworten benötigt werden. Wie zur Bestätigung reiste Boris Palmer nicht mit der Limousine aus Tübingen an, sondern ganz unkonventionell mit dem Fahrrad. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hatte sich in den Zug gesetzt, um dann vom Nürtinger Bahnhof nach Kirchheim zu radeln. 

In der mit mehr als 200 Zuhörerinnen und Zuhörern voll besetzten Kirche war das Publikum dem Gast aus der Universitätsstadt wohlgesonnen. Mitveranstalter Hans Dörr von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft lieferte die Diskussionsgrundlage für den Abend, dessen Titel wohl bewusst sachlich gehalten war: Das Thema sei komplex und emotional hoch besetzt und polarisierend. Dörr zitierte den Migrationsforscher Gerald Knaus: „Die meisten Menschen wollen Politiker,

 

Ich stehe nicht zur Wahl, ich lade Sie ein, uns in der Mitte zu treffen.
Boris Palmer auf den Einwurf einer Zuhörerin, seine Positionen seien populistisch

 

die versuchen, Werte und Interessen zusammenzubringen, und eine Politik, die Empathie und Kontrolle verspricht. Wir haben Boris Palmer eingeladen, weil er sich aus unserer Sicht in seiner konkreten Flüchtlingsarbeit in Tübingen erfolgreich bemüht, diesem Anspruch gerecht zu werden“, sagte Dörr und wurde vom Publikum mit einem satten Applaus bestätigt. 

Palmer ist für sein Buch „Wir können nicht allen helfen“, das 2017 erschienen ist, häufig stark kritisiert worden. Auch sonst eckt er immer wieder mit provokanten Sätzen an, wie im vergangenen Jahr, als er von Frankfurter Studenten gefragt würde, ob er einem schwarzen Studenten das N-Wort ins Gesicht sagen würde, was er daraufhin prompt tat. Es folgten der Parteiaustritt bei den Grünen und eine Auszeit. Doch seiner Popularität tat das kaum einen Abbruch, zumindest bei jenen, die seine pragmatische Art seit jeher geschätzt haben.

An diesem Abend präsentierte sich der konfliktfreudige Politiker entspannt und analysierte die Situation in der Migrationsdebatte wie sein Vorredner dahingehend, dass sie von zwei diametral entgegengesetzten Polen her dominiert wird: 20 Prozent lehnen jeglichen Zuzug von außen ab, sei es aus Asylgründen oder aus wirtschaftlichen Gründen, 30 Prozent halten jede Form von Restriktionen gegen Geflüchtete für unmoralisch. Der 51-Jährige hält es für wesentlich zur Lösung des Problems, die Agenda der Maximalpositionen zu verlassen und zentristisch zu denken, also Positionen der Mitte, die er derzeit auf 50 Prozent taxiert, zu stärken.

So spricht sich Palmer nicht nur dafür aus, kriminell gewordene Asylbewerber ungeachtet ihres Herkunftslandes sofort auszuweisen. Andererseits sollte aber auch niemand abgeschoben werden, der seit fünf Jahren im Land ist, als Logistiker arbeitet und integriert ist. „Das ist grober Unfug.“ Auch dafür erhält der Tübinger OB Applaus. Warum so jemand abgeschoben wird, weiß Palmer auch: Weil man weiß, wo er sich aufhält. „Der Logistiker kommt ins Geschäft, die Spitzbuben sind schon längst weg.“ Seine Meinung: Wer sich integrieren will, kann bleiben, egal woher. Wer straffällig wird, soll weg, egal wohin. „Das sollte man als Ziel formulieren“, meint Palmer. So spricht er sich auch für eine Bezahlkarte für geflüchtete Menschen aus, die Bargeldauszahlungen ersetzen soll. „Warum soll das diskriminierend sein? Im Ausland sehe ich ständig ‘no cash’“. Im Übrigen solle die Karte wie eine Debit-Card überall einsetzbar sein.

Seitenhieb auf die AfD

Ein Seitenhieb auf die AfD fehlt ebenfalls nicht. „Die Situation hat sich verbessert, was Diskurs angeht, verschlechtert, wenn man die Wahlergebnisse nimmt.“ Doch das Volk könne man nicht abwählen, daher bevorzuge er es, Probleme anzusprechen. Da sieht der Gast aus Tübingen durchaus eine positive Entwicklung, was sich auch an dem Abend manifestiert: „Der Tabuisierungszwang nimmt ab“, stellt der streitbare OB fest. „Wenn der Bundeskanzler im ‘Spiegel’ sagt, wir müssen im gro­ßen Stil abschieben, geht das heute. Stellen Sie sich vor, Boris Palmer hätte das vor drei Jahren gesagt.“ Gelächter in der Kirche. Die Problemanalyse aus der Praxis, zu wenig Wohnraum, Kinderbetreuung, Kosten für Gemeinden, Sicherheit und Personal für die Betreuung von Flüchtlingen. „Über die Probleme nüchtern zu reden, würde dazu beitragen, eine zentristische Mehrheit zu mobilisieren.“ 

In der anschließenden Diskussion kamen auch fehlende Förderungen des Staates zum Tragen. Bestimmte Dinge wie früher können wir nicht mehr machen. Das sei nicht mehr finanzierbar. 

Im Laufe der anschließenden Diskussion erhoben sich die Ers­ten zum Gehen, aber der Abend zeigte: Eine Diskussion ist möglich – auch bei konfliktbeladenen Themen. Womit man gerechnet hatte, zeigte die Präsenz zweier Polizisten. Die Beamten mussten aber – zumindest Stand kurz vor Diskussionsende – nicht eingreifen.