Europa. Es begann mit einem Austausch des Kreisjugendrings Esslingen mit der Technischen Universität Warschau im Sommer 1982. Damals herrschte Kriegsrecht in Polen. Das Regime der Volksrepublik Polen unter Wojciech Jaruzelski, hatte es von 1981 bis 1983 verhängt, um die Demokratiebewegung zu zerschlagen. Dies beeinflusste auch das Austauschprogramm. Wir waren die erste Gruppe, die wieder einreisen durfte. Mit unseren Kleinbussen passierten wir Straßensperren vor Warschau, bevor wir die polnischen Studierenden trafen.
Zum dreiwöchigen Programm gehörte auch ein Aufenthalt an einem Wochenende in der Familie eines polnischen Studierenden. Mir wurde Krzysztof zugewiesen. Er hat mich zum Mittagessen in der Familie seiner künftigen Frau Grazyny eingeladen. Sein Schwiegervater in spe war Koch. Ich erinnere mich noch genau an die Erdbeersuppe mit Nudeln und das Wiener Schnitzel. Es war ein Festmahl. Zu dieser Zeit gab in Polen Lebensmittel nur auf Marken.
Gleich für das drauffolgende Wochenende luden mich Krzysztof und Grazyny zu ihrer Hochzeit ein. Ich war gerührt. Doch wegen des Kriegsrechts konnte ich nicht bleiben und musste mit der Gruppe nach Danzig weiterfahren.
40 Jahre später: Wir sitzen zusammen auf einer Schaukel im Garten des gemieteten Ferienhauses an der polnischen Ostsee, wo wir zusammen mit einem Teil unserer Familien unsere Ferien verbringen, und blättern durch einige der alten Briefe. Ich habe sie alle in einer mit Blümchenpapier überzogenen Schuhschachtel aufgehoben und mit E für Eingang des Briefes und B für beantwortet auf dem Kuvert versehen. Krzysztof nimmt einen und beginnt laut zu lesen: Er ist von 1983. „Ich habe deinen Brief vielmal gelesen. Dein Deutsch ist so schön. Ich soll noch viel lernen“, steht da geschrieben. Für vier Jahre Deutschunterricht je zwei Stunden die Woche, finde ich seine Briefe auch 40 Jahren später wunderbar, zumal ich außer ein paar Wörtern bis heute kein Polnisch spreche. Im Wörterbuch hat er damals Worte nachgeschlagen, heute googelt er schreibt mir E-Mails.
Aber nicht nur das hat sich verändert. Krzystof lacht, als er weiterliest. „In der vorigen Woche habe wir fünf Pakete von dir bekommen. Kaffeeservice ist schon komplett“. Er erinnert sich an seinen ersten Aufenthalt in Esslingen, wo er im Zuge des Austauschprogramms ein vierwöchiges Praktikum bei Index für sein Studium machte. Als er ein Wochenende bei meinen Eltern in Aichwald verbrachte, hatte er das Service bei einem Stadtbummel mit mir gesehen. „Es gab einfach Sachen, die das Leben gemütlicher gemacht haben und die es in Polen damals nicht gab,“ meint er. Er sei sehr überrascht gewesen, als ich es ihm Teil für Teil geschickt habe. Noch heute hat er es – wie auch meine Briefe. „Ich habe gedacht, es wäre schön, wenn ich in Pension bin, die Briefe zu lesen. Seit dieser Zeit bin ich ein anderer Mensch geworden, mit anderen Erfahrungen“, sagt er und nimmt einen weiteren Brief vom Februar 1984. Er schreibt über sein Arbeitsleben und das seiner Frau, die ihre erste Tochter erwartet und dass er im Mai zum Militär muss. Jetzt sei es schwer, sich vorzustellen, zwölf Monate ohne Familie zu sein. „Es war die kommunistische Zeit. Und wir konnten uns nicht vorstellen, dass sie zu Ende geht“, meint er. Es ging mir damals ebenso: 1982, nach den Straßensperren vor Warschau, den Verhaftungen, die wir in Danzig gesehen hatten, den Speisekarten, die voll bedruckt waren, aber es gab nur das Essen oder Getränk, hinter dem ein Preis stand. Die Briefe spiegeln Zeitgeschichte wider.
Und durch die Briefe ist eine lebenslange Freundschaft entstanden. Für mich ist er der Mensch, mit dem ich durchgängig in Kontakt bin. Mein langjährigster Freund. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat es ermöglicht, nicht nur zu schreiben, sondern uns mit unseren Angehörigen zu treffen, Silvester und Geburtstage zu feiern und die Ferien zu verbringen. Und auf eine polnische Hochzeit bin ich knapp 30 Jahre später doch noch gekommen – zu der seiner ältesten Tochter.