Kirchheim
Corona: Kinder jenseits der Schulpflicht

Pandemie  Auf einer Wiese in der Ötlinger Halde umgehen Eltern mit ihren Kindern seit Monaten die Schulpflicht, sagen manche. Der Betreiber nennt es „sozialpädagogisches Gruppenangebot“. Wer hat Recht? Von Antje Dörr

Die Ötlinger Halde befindet sich in diesen Tagen noch im Winterschlaf. Die Wege sind matschig, die Wiesen nass, nur ein paar Gassigänger sind unterwegs. Auf einem Stückle unweit des Veilchenwegs hingegen ist ordentlich was los. Kinderstimmen sind zu hören, dazu das Nörgeln einer Motorsäge. Das Grundstück ist mit rostigem Maschendrahtzaun eingefasst, das grüne Tor steht offen. Hinter Gestrüpp leuchtet ein weißes Zelt hervor. Hier soll er sein, der Ort, an dem sich Corona-Kritiker seit Oktober jeden Vormittag mit 13 schulpflichtigen Kindern aufhalten. So berichten es Beobachter aus Ötlingen. Innerhalb des Zauns spielen Kinder im Matsch. In dem weißen Zelt stehen zwei Frauen und ein Mann, bitten herein, geben sich gesprächsbereit. Als die Reporterin die Maske aufsetzt, um das Zelt zu betreten, ändert sich die Stimmung abrupt. „Mit Maske unterhalte ich mich nicht“, sagt die Frau, die sich als Anna Ohlendorf-Kist vorstellt. „Hier sind Kinder, und die sind traumatisiert“.

Reizthema Maske

Die Geschichte, die seit Oktober in der Ötlinger Halde spielt, hat viele Facetten. Sie handelt von Kindern, die seit Monaten keine Schule mehr von innen gesehen haben, oft, weil sie keine Maske tragen wollen – oder es angeblich nicht können. Sie handelt von Eltern, die sie darin bestärken und von Schulen, die ohnmächtig sind, weil sie gegen qualifizierte ärztliche Atteste wenig ausrichten können. Und sie handelt von Behörden, die teils schon seit Monaten wiederholt von Bürgern darauf hingewiesen worden sind, dass in der Ötlinger Halde etwas vor sich geht.

Eine der Hauptpersonen in dieser Geschichte ist Matthias Lebschy, Heilerziehungspfleger aus Esslingen und Geschäftsführer von „Betreuung und Bildung“ (be:bi), einer gGmbH, die in der Neckarstadt zwei Kitas betreibt. Er hat die Initiative „Lernen im Freien“ ins Leben gerufen, die mehrere Ortsgruppen unterhält, auch in Ötlingen. Ziel sei es, dass Kinder wieder Freude am Lernen entwickelten und in Kontakt mit ihren inneren Bedürfnissen träten, die sie aufgrund des Infektionsschutzes unterdrückten müssten, sagt Lebschy. Das Spielen im Matsch ist Programm: Laut der Konzeption sollen die Kinder, befreit vom Leistungsdruck, zurück zu ihren Impulsen finden. Treten die Interessen wieder zu Tage, sollen die Kinder darin bestärkt und gefördert werden. Betreut werden die Kinder von Eltern und ehrenamtlichen Pädagoginnen. Dazu kommen 25 Stunden pro Monat, in denen ein Erzieher des Vereins vor Ort ist – auch zur Kontrolle.

„Lernen im Freien“ sei jedoch keine alternative Schulform, sondern ein sozialpädagogisches Hilfeangebot nach § 13 SGB VIII, betont Matthias Lebschy. Er weiß vermutlich, warum er das tut: Würde er sein Angebot „Schule“ nennen, wäre der Laden morgen dicht.

Nicht alle Schulen wissen Bescheid

Das Pikante an der Sache ist: In dem Gesetz ist auch festgeschrieben, dass  Angebote mit den „Maßnahmen der Schulverwaltung“ abgestimmt werden sollen. Allerdings sind noch gar nicht alle Schulen darüber informiert worden, dass ihre Schülerinnen und Schüler in der Ötlinger Halde zu finden sind. Und das, obwohl seit Oktober beinahe fünf Monate vergangen sind. Matthias Lebschy sagt, einige Schulen wüssten Bescheid, dazu das Schulamt und die Jugendämter. Ein Schulleiter kooperiere mit dem Verein. Dass Schulen informiert worden sind, lässt sich nicht überprüfen, weil Lebschy die Namen der zehn Schulen, die die Kinder einst besucht haben, nicht herausgibt. Er will zunächst mit den Eltern sprechen. Diese hätten Teilnahmebescheinigungen erhalten und seien aufgefordert worden, sie den Schulen auszuhändigen. Offenbar ist das noch nicht in allen Fällen geschehen. Verwunderlich ist das eigentlich nicht.

Fragt man Matthias Lebschy, warum die Kinder, die zwischen sechs und 14 Jahre alt sind, nicht zur Schule gehen können, fällt ganz schnell das Stichwort Maske. „Wenn der Arzt der Meinung ist, dass das Kind aus gesundheitlichen Gründen die Maske nicht tragen darf, ist das gleich leider häufig ein Riesenkonfliktthema mit der Schule und den anderen Eltern“, sagt er. Die Kinder seien diesen Konflikten ausgesetzt und würden häufig ausgegrenzt. „Wir haben es schon erlebt, dass das Kind, das keine Maske trägt, am offenen Fenster sitzen musste“, sagt Lebschy, der selbst aufgrund starker Migräne ein Maskenattest besitzt. Testen sei auch ein Thema. „Wenn jemand schon keine Maske trägt, und dann noch einen positiven Test hat, dann wird er von Mitschülern und Lehrern leider nicht selten wie ein Aussätziger behandelt“, beklagt er.

In die Nähe von Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern will Lebschy  nicht gerückt werden. Auf der Homepage des Vereins steht: „Wir stehen Menschen, mit der Überzeugung, dass es ungesund ist, eine Maske zu tragen genauso offen gegenüber, wie solchen mit der Überzeugung, dass es ungesund ist, keine Maske zu tragen.“ Anna Ohlendorf-Kist würde das vermutlich nicht unterschreiben.

Kommentar: Was ist gut fürs Kind?

Legal oder illegal? Diese Frage ist im Fall des Lernorts in der Ötlinger Halde nicht so leicht zu beantworten. Anders als die illegalen Schulen, die seit einiger Zeit überall in der Bundesrepublik aufgelöst werden, erhebt „Lernen im Freien“ nicht den Anspruch, Schule zu sein. Die Eltern, die dieses Angebot in Anspruch nehmen, machen sich eine Art Gesetzeslücke zunutze, die ihnen ermöglicht, ihr Kind trotz Schulpflicht von der Schule fern zu halten. Mit im Boot: Einige wenige Ärzte, die Maskenatteste ausstellen. In Stuttgart gibt es laut Schulamt eine Psychologin, die Kindern bescheinigt, sie seien durch die Corona-Maßnahmen traumatisiert.

Beinahe alle Schulen haben in diesen Tagen mit einzelnen Eltern zu tun, die ihre Kinder aufgrund der Masken- und Testpflicht nicht in die Schule schicken wollen. Dazu kommt eine große Zahl an Eltern, die sich mit der Maske schwer tun, sie aber grummelnd akzeptieren. Es ist wichtig, zu betonen: In den allermeisten Fällen kommen die Kinder trotzdem in die Schule, weil es Lehrkräften, Schulleitungen und Eltern gelingt, eine Lösung zu finden. Im Fall der Ötlinger Halde sieht es jedoch so aus, als wären die meisten Eltern gar nicht an einer Lösung interessiert, die zur Rückkehr ihrer Kinder in die Schule führt. Wie ist es sonst zu erklären, dass unter den 13 Kindern etliche sind, die sich dort seit Oktober aufhalten und dass viele Schulen noch nicht einmal darüber informiert sind, wo die Kinder sind? Auch ein Trägerverein, der an Zusammenarbeit interessiert ist, hätte von Beginn an mit offenen Karten spielen sollen. Angesichts dessen wäre es nicht verwunderlich, wenn die Behörden erhebliche Zweifel daran hätten, ob die Kinder an diesem Ort gut aufgehoben sind.  Antje Dörr