Bundestagswahl
Das Kreuz mit dem Wahlrecht: Über Nacht zu jung zum Wählen

Durch den vorgezogenen Termin im Februar fallen zahlreiche 17-Jährige durchs Raster. Zwischen dem Wunsch, mitzuentscheiden, und der Wut über politischen Stillstand herrscht bei vielen ein Vakuum.

Am 23. Februar wird der neue Bundestag gewählt. Durch die vorgezogenen Neuwahlen werden viele Jugendliche ihres Erstwahlrechts beraubt.  Foto: AdobeStock/Andreas Prott

Als „irritierend“ beschreibt Frederick Rau das, was ihm durch den Kopf geht, wenn er an den 23. Februar denkt. Im September wird der 17-Jährige aus Weilheim volljährig. Das ist kurz vor dem Datum, an dem bis zum Bruch der Ampel-Koalition im November der neue Bundestag gewählt worden wäre. Die vorgezogenen Neuwahlen bedeuten für ihn: Wahlalter nicht erreicht – er ist raus. So wie Frederick geht es nach Schätzungen des Statistischen Bundesamts mehr als 400.000 potenziellen Erstwählerinnen und -wählern in Deutschland. Dumm gelaufen? Was Frederick wirklich meint, wenn er von „irritierend“ spricht, ist: Bei den Europa- und Kommunalwahlen im vergangenen Jahr durfte er abstimmen, weil dort das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt wurde. In Ötlingen stand er sogar auf der Bewerberliste für die Wahl in den Ortschaftsrat. Bei der Bundestagswahl in gut zwei Wochen ist er nur Beobachter, obwohl es dabei auch um seine Zukunft geht.

„Entweder man ist im wahlfähigen Alter oder man ist es nicht“, sagt Chiara Steinle aus Ötlingen, die im April ihren 18. Geburtstag feiert und findet, dass 16 auch bei Bundestagswahlen ein gutes Einstiegsalter wäre. Ihrer Altersgenossin Lilly Kapp ist durchaus klar, dass damit auch Risiken verbunden sind. „Politische Bildung ist nicht selbstverständlich“, sagt die junge Kirchheimerin. Vieles davon hänge vom Elternhaus ab. „Nur wer diesbezüglich zu Hause gefördert wird, macht mit 16 sein Kreuz nicht willkürlich an irgendeiner Stelle.“

Es fehlt an Köpfen, die wissen, was sie tun und die tun, was sie sagen.

Die 17-jährige Paula Kübel aus Weilheim

 

Im Gemeinschaftskunde-Leis­tungskurs am Kirchheimer Ludwig-Uhland-Gymnasium geht es genau darum. Politische Zusammenhänge verstehen lernen, Argumente gegeneinander abwägen, den Diskurs üben. Wer hier sitzt, hat sich bewusst dafür entschieden. Dabei sollte politische Bildung alle beschäftigen, betont die Weilheimerin Paula Kübel. Im bestehenden Schulsystem läuft für sie deshalb einiges falsch. „Dass Politik als Schulfach nach einem Jahr einfach abgewählt werden kann, dürfte es nicht geben“, sagt die 17-Jährige. „Ich kenne Leute, die haben bei den Europawahlen deshalb nicht gewählt, weil sie gar nicht wussten, dass sie dürfen.“

Unabhängig vom Recht, wählen zu dürfen, zeigen sich die meis­ten gespalten. Wer die eigenen Interessen am besten vertritt, wer Vertrauen verdient, das sind Fragen, mit denen sich alle hier schwertun. „Man hat das Gefühl, Politiker betreiben Wahlkampf, ohne zu wissen, was der Plan ist“, sagt die Kirchheimerin Arjin Havayitli. Paula Kübel beschreibt es so: „Es fehlt an Köpfen, die wissen, was sie tun, und die tun, was sie sagen.“

Was generell vermisst wird: Respekt im Umgang mit anderen Meinungen, mit politischen Gegnern. Dass auf Ampelstreit nun Wahlkampf folgt, indem es erneut um Spaltung statt um Zusammenarbeit geht, sorgt für wachsenden Frust. Bei der 4. Kirchheimer Jugendkonferenz im vergangenen November waren sie alle dabei. Die Welt, in der man lebt, gemeinsam zum Besseren verändern und sei es nur im lokalen Umfeld, darum ging es. Ähnliches würden sich viele auch von Entscheidungsträgern in politischen Spitzenämtern wünschen. Gegenseitige Achtung, die Fähigkeit, zuzuhören, die Bereitschaft zum Kompromiss, um schließlich zu Lösungen zu kommen. Auch „Authentizität“ ist ein Begriff, der immer wieder fällt in der Runde. „Das alles fehlt“, meint Frederick Rau, der sich in Sachen Debattenkultur die Landes- oder gar Bundespolitik besser nicht zum Vorbild nehmen will. „Jeder kämpft gegen jeden. Wer die Nachrichten verfolgt, kommt sich regelmäßig vor wie im Kindergarten“, sagt er.

Was überrascht: Lineares Fernsehen mit den klassischen Nachrichtenformaten oder die Tageszeitung werden als wichtige Quellen genannt. Social-Media-Kanäle – obwohl eifrig genutzt – hingegen durchaus kritisch betrachtet. „Für mich gehören Sendungen wie die Tagesthemen zur Einordnung dazu“, sagt etwa Felix Riedlinger aus Nabern. Dass die AfD bei Jungwählern so gut ankomme, habe viel mit Social Media zu tun, ist er überzeugt. „Dort werden Tragödien gepusht und Sachverhalte nur verkürzt dargestellt.“ Seine Mitschülerin Lena Gehring ergänzt: „In unserem Alter gibt es schon viele Leute, die einfache Lösungen suchen.“

 

320.000 potenzielle Erstwähler im Südwesten

Durch den Wahltermin im Februar dürfen nach Zahlen des Statistischen Landesamts etwa 55.000 junge Menschen in Baden-Württemberg weniger an der Bundestagswahl teilnehmen als dies zum ursprünglich geplanten Wahltermin am 28. September der Fall gewesen wäre.
Demnach gibt es am Wahltag am 23. Februar rund 320.000 potenzielle Erstwähler im Land, die seit der vergangenen Bundestagswahl 2021 volljährig geworden sind. Ihr Anteil liegt in Baden-Württemberg bei 4,2 Prozent. Bei der Wahl vor vier Jahren waren es noch fünf Prozent. bk