Kirchheim
Das Leben ist kompliziert, aber schön

Lesung Die Autorin Anna Katharina Hahn stellt im Gespräch mit Frank Bauer ihren neuen Roman „Aus und davon“ vor – wegen Corona nicht in der Buchhandlung, sondern im Freien: im Kirchheimer Freihof. Von Ulrich Staehle

Es gibt sie wieder, die Lesungen bei Zimmermann: Innerhalb des Kirchheimer Kultursommers in coronakompatibler luftiger Atmosphäre vor den Arkaden des Schlössles im Freihof an einem wunderbaren Sommerabend. Anna Katharina Hahn brachte ihren neuen Roman „Aus und davon“ mit. Die vielfach ausgezeichnete Stuttgarter Autorin ist derzeit in ganz Deutschland gefragt, und ausgerechnet in Kirchheim fand ihre gerade mal dritte Lesung statt. Das wird dadurch möglich, dass es sich, wie die Autorin selbst betont, in Kirchheim um ein „traditionelles Treffen“ handelt. Schon 2009 und 2012 hat sie ihre Neuproduktionen bei Zimmermann vorgestellt.

Erzählt wird von vier Generationen einer Stuttgarter Familie, wobei die Frauen im Mittelpunkt stehen. 1923, in der Zeit der Not, wurde die junge Gertrud nach Amerika zu Verwandten geschickt, damit sie etwas verdient und die Angehörigen unterstützen kann. Sie wird sehr schlecht behandelt und kehrt nach einem Jahr mit ihrem künftigen strenggläubigen Ehemann zurück, den sie auf der Hinfahrt kennengelernt hatte.

Natürlich erzählt die Autorin die Generationenabfolge nicht dem Zeitfaden entlang, sondern kunstvoll verwoben. Trotzdem bot sich das 1. Kapitel des Romans mit seiner Einführung von Personen und Orten zum Auftakt an. Erzählt wird darin von Elisa­beth, der Tochter der Rückkehrerin Gertrud. Sie soll für die Enkel sorgen, denn ihre Tochter Cornelia braucht dringend eine Auszeit vom stressigen Alltag und besteigt ein Flugzeug in die USA. Elisabeth macht bei ihrem Umgang mit den beiden Enkeln Bekanntschaft mit der Jugend im Jahr 2017: Der dicke Bruno ist bockig, und Stella bringt unangemeldet Freunde zum Essen mit. Das Smartphone ist fester Bestandteil des Lebens.

Rückblenden berichten von früher: Elisabeth ist aus dem pietistisch geprägten Elternhaus ausgebrochen. Trotz aller Selbständigkeit erinnert sie sich immer wieder an die Belehrungen von zwei Fellbacher Diakonissen. Im Dialog mit Moderator Frank Bauer gab die Autorin preis, dass auch sie in der Kindheit von Großelternseite pietistisch beeinflusst wurde. Elisa­beth sei aber nicht „gebrochen“, wie Bauer meint, sondern „verzweifelt“. In der Verzweiflung könne der Pietismus durchaus Lebenshilfe geben.

In der nächsten ausgewählten Lesepassage erzählt Cornelia von einer Shoppingtour in den USA gemäß einer Wunschliste der Kinder. Die Autorin meint, Cornelia sei keineswegs so frei und ungebunden, wie sie gehofft hatte. Allein durch die ständige Kommunikation mit zuhause via Smartphone ist sie nie richtig abwesend.

Tiere als Abbild der Schöpfung

Im „Lieblingskapitel“ des Moderators geht es um Bruno. Der schwänzt die Schule, weil er massiv gemobbt wird, und versteckt sich in einem Container. Im Umgang mit einer wilden, verwahrlosten Katze zeigt er sich „in einem neuen Licht“. Er wird kommunikativ und zärtlich, denn er fühlt sich verstanden. Tiere sind im Roman ein durchgehendes Motiv. Die Autorin kommentiert geradezu pathetisch: „Tiere sind das Unschuldigste, was es gibt. Sie sind einfach da“, ein Abbild der „Schönheit, der Schöpfung, des Paradieses“.

Moderator Bauer stellt die Impulsfrage: „Warum ist im Roman so viel vom Kochen und Essen die Rede?“ Hahn: „Kochen ist in der Regel eine Aufgabe der Frauen. Kochen heißt jemanden versorgen, jemandem Liebe zukommen lassen.“ Gertrud erfährt in den USA einen Kulturschock. Während Deutschland hungert, erlebt sie dort einen Überfluss an Nahrungsmitteln. Die Autorin hat dafür in einem Reiseführer von 1920 gründlich recherchiert. In der letzten Lesepassage ging es um eine erzählende Puppe namens Linsenmaier, da sie mit Alblinsen gestopft ist. Sie wird von Generation zu Generation vererbt und dient der Autorin vor allem als pfiffiger Trick, um von der Urgroßmutter Gertrud zu erzählen.

Insgesamt handelt der Roman von vergeblichen Ausbruchsversuchen. Die Autorin sagt dazu an anderer Stelle: „Ich beobachte mit kühlem Herzen, was sich verändert, ohne zu werten und ohne zu heulen.“ Wenn etwas Trost spendet, dann ist es das Erzählen. Obwohl sie präzise und schonungslos vorgeht, entlässt Anna Katharina Hahn ihr Publikum nachdenklich, aber nicht trostlos.