Kirchheim. Das verschwundene Opfer einer Kirchheimer Messerattacke ist wieder aufgetaucht – und wurde am gestrigen zweiten Verhandlungstag vor der Stuttgarter Schwurgerichtskammer in den Zeugenstand zitiert. Der 34-jährige Mann aus Russland war laut Anklage von einem 52-jährigen Mitbewohner einer Kirchheimer Unterkunft durch einen Messerstich in den Hals schwer verletzt worden. Aber daran erinnert der Zeuge sich nicht mehr.
Was genau geschah an jenem 4. November vergangenen Jahres in der Wohneinheit des 34-jährigen Opfers in der Lindorfer Straße in Kirchheim? Die Richter am Stuttgarter Landgericht wollten dies von dem heute wieder genesenen Opfer genau erfahren. Er müsse die Wahrheit sagen, belehrte ihn der Gerichtsvorsitzende vor der Befragung deutlich. Gleichzeitig setzte es auch eine Standpredigt, weil der Zeuge am ersten Verhandlungstag trotz Ladung nicht erschienen war. Warum er den Termin versäumte, konnte er gestern nicht erklären.
Dann folgte eine recht kuriose Aussage des Mannes, der durch den Messerstich im Hals schwer bis lebensgefährlich verletzt wurde: Er wisse überhaupt nichts mehr von dem Vorgang, kam da über seine Lippen. Die Richter waren sprachlos. Man will in der Beweisaufnahme genau nachvollziehen, wie es zu dem Messerstich kam. Dass der Zeuge keinerlei Erinnerung mehr habe, könne man sich nicht vorstellen, sagte der Kammervorsitzende und mahnte den Zeugen, sich zu erinnern. Doch der schüttelte nur den Kopf. Dann meinte der Zeuge, er wolle wieder gehen, denn er sei müde. Die Frage des Richters beantwortete er hingegen nur noch mit Schweigen. Der Vorsitzende Richter protokollierte folgendes: „Der Zeuge weigert sich auszusagen …“ Dann jedoch sprudelte es aus dem Zeugen heraus: Er habe damals mit dem Angeklagten zusammen Alkohol konsumiert, Whisky sei dies gewesen, eine ganze Flasche. Mehr jedoch wisse er nicht mehr. Ob er auch keine Erinnerung mehr daran habe, dass er mit dem Messer im Hals aus dem Fenster sprang, will der Vorsitzende wissen. Ja, dies könne so sein, aber er wisse es nicht, so der Zeuge. Mehr war dem 34-Jährigen zum Tatgeschehen am gestrigen Verhandlungstag nicht zu entlocken.
Die Gedächtnislücken scheinen indes auch den Vernehmungsbeamten der Polizei angesteckt zu haben. Denn der gab gestern im Zeugenstand an, dass er sich auch nicht mehr daran erinnert, was das Opfer ihm damals aktuell ausgesagt hatte. Er müsse in seine Unterlagen schauen, wobei der Gerichtsvorsitzende ärgerlich wurde: „Legen Sie diese Unterlagen weg, ich will wissen, was heute noch in Ihrem Kopf ist.“ Nur mühsam erfuhren die Richter dann, dass sich die damalige Vernehmung des Verletzten schwierig gestaltete. Es kam lediglich heraus, dass das Messer im Hals direkt neben der Schlagader stecken blieb und dass der 34-jährige Russe den Stich überlebt hat und heute wieder gesund ist.
Nach Anhörung der Gutachter soll am kommenden Montag, 23. Mai, das Urteil gesprochen werden. Bernd Winckler