Gleich zwei wichtige Gebäude in Kirchheims Innenstadt hat das Stuttgarter Architekturbüro Cheret Bozic unter die Lupe genommen: das Wachthaus und das Spital. Beide Fachwerkgebäude sind sanierungsbedürftig – und in beiden Fällen geht es um die Frage, ob das Fachwerk sichtbar bleiben soll oder ob es auch hinter Putz respektive einer Fassaden-Bekleidung verborgen bleiben kann.
Im Kirchheimer Gestaltungsbeirat hat Peter Cheret nun groß ausgeholt, um grundsätzliche Fragen zu klären. Auch wenn fast jeder, der Kirchheim kennt, die Frage als unzulässig bis absurd verwerfen würde, wagte es Peter Cheret dennoch, sie zu stellen: „Ist Kirchheim eine Fachwerkstadt?“ Seine Antwort: Nur in 20 Prozent aller Fälle sei das Fachwerk sichtbar, 80 Prozent der Fachwerkhäuser dagegen seien verputzt.
Bei drei Prozent der Häuser sei das Fachwerk allseitig sichtbar, wie zum Beispiel beim Max-Eyth-Haus. Bei sieben Prozent der Häuser sei das Fachwerk zweiseitig
sichtbar, vor allem an den Straßenecken. Neun Prozent der Fachwerkhäuser hätten eine einseitig sichtbare Fachwerkfassade: „Das sind die Häuser im Parzellenblock“ – deren Giebelseite an der Straße sichtbar ist.
Insgesamt zählte Peter Cheret 57 Gebäude mit sichtbarem Fachwerk in Kirchheim. Das ist eine ganze Menge, und trotzdem muss es angesichts der prozentualen Verteilung nicht ketzerisch sein, den Begriff „Fachwerkstadt“ zu hinterfragen: „Letztlich gibt es eben nicht ganz so viel sichtbares Fachwerk in Kirchheim.“
Peter Cheret unterschied in seinem Vortrag im Gestaltungsbeirat zwischen „Sichtfachwerk“ und „sichtbarem Fachwerk“. Im ersten Fall wurde bereits beim Bau berücksichtigt, dass das Fachwerk die Fassade zieren soll. Davon zeugen spezielle Ornamente oder auch spielerische und geschlungene Formen der Balken. Das prominenteste Beispiel für Sichtfachwerk in Kirchheims Innenstadt ist sicherlich das Rathaus.
In den meisten Fällen in der „Fachwerkstadt“ Kirchheim handelt es sich dagegen um sichtbares Fachwerk. Das bedeutet, dass ein Haus zwar aus einer Fachwerkkonstruktion besteht, dass es sich aber eher um einfache und schmucklose Formen handelt. Erst viel später ist in diesen Fällen die Idee entstanden, das Fachwerk sichtbar zu machen, es also freizulegen und nur noch die Gefache zu verputzen.
Das Problem zeigt sich insbesondere am Wachthaus: Den Schadenverlauf bezeichnet Peter Cheret nicht mehr als linear, sondern fast schon als exponentiell: „Viele Balken sind zu 100 Prozent geschädigt. Da muss dringend was getan werden.“ Er selbst spricht sich dafür aus, das Fachwerk künftig zu verputzen, und begründet das unter anderem mit Kostenvorteilen: „Bleibt das Fachwerk sichtbar, braucht es alle zwei Jahre eine Wartung und alle fünf bis zehn Jahre eine Instandhaltung.“ Die Wartung veranschlagt er auf knapp 20 000 Euro, die Instandhaltung auf 140 000 Euro.
Kirchheims klassizistisches Kleinod
Peter Cheret hat mit seinem Team aber auch im Stadtarchiv geforscht. Sein Ergebnis: „Das Wachthaus ist ein klassizistisches Kleinod in Kirchheim.“ Das zeige sich heute vor allem am Giebeldreieck, das dem Tympanon griechischer Tempel nachempfunden ist. Geprägt sei der Klassizismus durch das Ideal Johann Joachim Winckelmanns: „Edle Einfalt, stille Größe“. Fachwerk passt da also gar nicht ins Konzept. Das Wachthaus, Baujahr 1829, war deswegen von Anfang an – und über die längste Zeit seines Bestehens hinweg – verputzt. Erst 1957 wurde das Fachwerk freigelegt. Das war freilich früh genug, um bei fast allen heutigen Kirchheimern den Eindruck zu erwecken, das Wachthaus sei „schon immer“ ein Gebäude mit sichtbarem Fachwerk gewesen.
Außerdem wies Peter Cheret nach, dass der Anbau zur Schlossbastion hin ursprünglich eingeschossig war und erst in den späten 1930ern aufgestockt wurde. Damals schloss sich das Gebäude direkt an die Stadtmauer an. Erst mit der Freilegung des Fachwerks 1957 sei das letzte Joch zur Bastion hin abgerissen worden. „Seither kann man da durchgehen.“
Zum Schutz der Fachwerkbalken empfiehlt Peter Cheret also, das Wachthaus zu verputzen. Dadurch würde auch das Erbe des Klassizismus deutlicher hervorgehoben. Im zweiten Obergeschoss würde er auch zur Marktstraße hin auf die kleinen Fenster zurückgreifen wollen, die sich zur Biergartenseite erhalten haben. Das erinnert daran, dass dort früher einmal die Arrestzellen untergebracht waren.
Ein ganz anderer Weg fürs Spital
Der Architekt betrachtet es aber als „Glücksfall“, dass er gleich zwei Gebäude zur selben Zeit untersuchen konnte: Für das Spital empfiehlt er nämlich eine dritte Lösung: In diesem Fall hält er das Sichtfachwerk für erhaltenswert, das aber nur im ersten Obergeschoss und auch nur an zwei Seiten zu sehen ist: nach Norden und Osten, also zur Max-Eyth- und zur Kornstraße hin. Nach Süden und Westen gibt es dort kein Sichtfachwerk, ebensowenig in allen weiteren Geschossen: Das Gebäude sei erst im 19. Jahrhundert aufgestockt worden, mit Fachwerk als konstruktivem Element, aber ohne Zierfunktion. Deswegen soll das sichtbare Fachwerk nach einer Sanierung hinter acetylierten Dreischichtplatten verschwinden, die die Fachwerkstruktur nur noch andeuten, dafür aber einen großen Vorteil haben: „Da fällt kein neuer Regen mehr aufs Holz. Deshalb hat man dann für die nächsten 30 bis 40 Jahre Ruhe.“
Eine Frage der Gewöhnung
Kommentar von Andreas Volz zum Verputzen von Fachwerkfassaden
Was vielen als Sakrileg erscheint – eine Fachwerkfassade zu verputzen – ist bei genauerer Betrachtung mitunter durchaus sinnvoll. Die historische Annäherung ist dabei nur eines von vielen Argumenten. Damit lassen sich sowohl die Freilegung als auch das Verputzen der Balken begründen: Im Laufe ihrer „Lebenszeit“ versteckten sehr viele Gebäude in der Kirchheimer Innenstadt über Jahre hinweg ihr Fachwerk entweder unter Putz, oder aber sie stellen es sichtbar zur Schau.
Die Unterscheidung zwischen Sichtfachwerk und sichtbarem Fachwerk ist deshalb sinnvoll: Die schön verzierten Eckbalken, die so manches Gebäude zieren – vor allem in exponierten Lagen –, sollen und sollten zu allen Zeiten sichtbar sein. Niemand hätte die Balken so sorgfältig bearbeitet, wenn von vornherein klar gewesen wäre, dass hinterher nichts mehr davon sichtbar sein würde. Das zeigt sich auch an der Wahl des Bauholzes. Sichtbare Balken, die Wind und Wetter trotzen müssen, sind aus Eichenholz. Für Fachwerk, das nicht als Schmuckstück dienen sollte, wählten die Bauherren normalerweise ein weitaus weniger beständiges Nadelholz.
Deswegen ist es sinnvoll, auch bei Sanierungen nach dieser Unterscheidung vorzugehen: Wo einfaches, schmuckloses Fachwerk vorzufinden ist, sollte es kein großes Problem sein, die Freilegungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder rückgängig zu machen. Ob Putz, wie fürs Wachthaus vorgeschlagen, oder eine Bekleidung, wie für einen Großteil des Spitals vorgesehen, sollte da keine große Rolle spielen. In beiden Fällen ist es wichtig, dass das Holz geschützt wird und dass es ohne großen Aufwand auf Jahre hinaus seiner Hauptaufgabe nachgehen kann: die Stabilität der Konstruktion zu garantieren.
Beim Wachthaus wird es zu einer Umgewöhnung kommen: Das dauert. Aber am Ende hat es sich noch immer gezeigt, dass die Menschen als „Gewohnheitstiere“ schon nach kurzer Zeit die alten Erscheinungsformen vergessen. Wer heute denkt, das Wachthaus sei schon immer ein Fachwerkgebäude gewesen, wird schon kurz nach abgeschlossener Sanierung ganz anders denken und bei der Ansicht „alter“ Bilder ausrufen: „Ach je, damals war das Wachthaus noch gar nicht verputzt!“
Ein anderes Beispiel: Das Kirchheimer Schloss ist über Jahre hinweg durch einen roten Putz aufgefallen. Alle waren das so gewohnt und konnten es sich nicht anders vorstellen. Heute jedoch ist der rote Putz eine Erinnerung an frühere Tage, ohne dass jemand ernsthaft verlangen würde, zum Rot zurückzukehren.