So oder ähnlich muss das Paradies sein. Oder die Pforte zum „Himmelreich“, wie das Gewann hier tatsächlich heißt und woher der Engelhof seinen Namen haben soll. Von der Terrasse gleitet der Blick vom Teckberg hinüber zur Senke am Mittagsfels und von dort nach Süden bis fast zur Alten Oberlenninger Steige. Ein paar vereinzelt umherziehende Rinder, ansonsten nichts als Wald und saftiges Grün, so weit das Auge reicht.
Viele Jahrzehnte war dieses beglückende Panorama Gratis-Beilage zu Rostbraten oder Tellerschnitzel. Bis ins Jahr 2000 war der Engelhof im Dreick zwischen Sattelbogen, Ochsenwang und Lenninger Tal ein beliebter Anziehungspunkt für hungrige Erholungssuchende auf der Alb. Seitdem ist der einstige Familienbetrieb verwaist. Genauer gesagt, das altehrwürdige Gasthaus, dessen Geschichte mehr als ein Jahrhundert zurückreicht. Denn nebenan betreiben die Wisslers, die das Hofgut vor mehr als 60 Jahren übernommen haben, Landwirtschaft in dritter Generation. Nicht irgendeine, sondern äußerst ambitioniert: 65 rote Angusrinder in Muttertierhaltung, fast 70 Hektar Grünland und 30 Hektar Wald. Seit 1990 bereits ist der Betrieb Bioland-zertifiziert.
Ein Besuch auf dem Engelhof soll sich anfühlen wie ein Tag Urlaub.
Matthias Wissler
Landwirtschaft ist hier kein reiner Broterwerb, sondern ein Lebensentwurf aus innerster Überzeugung. Eine „Herzensangelegenheit“, wie Matthias Wissler nicht müde wird, zu betonen – und doch ein Nebenstrang. Der 33-Jährige leitet im Hauptberuf die US-amerikanische Tochter eines Unternehmens, das sein Vater über Jahrzehnte aufgebaut hat und das High-End-Carbonteile, unter anderem für anspruchsvolle Radsport-Enthusiasten fertigt. Je mehr Zeit Matthias Wissler auf dem Familienanwesen droben auf der Alb verbrachte, desto schneller wuchs sein Wunsch, hier Zukunft zu gestalten. Eine Zukunft mit Bezug zur Vergangenheit, die Großvater Heinz, der als bisher letzter Gastwirt im Engelhof vor zwei Jahren im Alter von 91 Jahren verstarb, glücklich machen würde. Davon sind sie hier alle überzeugt.
Das Haus soll wieder zu dem werden, was es einmal war: ein florierender Gastbetrieb für naturbegeisterte Ausflügler und Wanderer, eine Wohlfühl-Oase für Familien und ein sozialer Treffpunkt für alle, die diese Seite ihrer Heimat lieben. Schon diesen Winter soll ein Weihnachtsmarkt auf dem Hof ein erstes Streiflicht auf diese Zukunft werfen. Im Frühjahr wird dann der Biergarten mit Selbstbedienung den Betrieb aufnehmen. Im Sommer schließlich soll die Gaststube mit Terrasse zu neuem Leben erwachen und an Zeiten anknüpfen, als hier gutbürgerliche Küche einen gleichfalls guten Ruf genoss.
An Ideen mangelt es den Wisslers nicht: vom Streichelzoo mit Eseln, Zwergziegen und Alpakas bis zu Ferienwohnungen, die ab Sommer 2026 an den Start gehen sollen. Im Anschluss ist auch ein Hofladen geplant, in dem es Produkte aus eigener Erzeugung – vorwiegend Fleisch und Wurstwaren – zu kaufen geben soll. Bisher geht das Fleisch der edlen Angusrinder als Bio-Ware im Owener Metzgereibetrieb Scheu und Weber über die Theke. Der Einstieg in die Direktvermarktung wäre aus Sicht der Familie der nächste logische Schritt. „Das alles muss geduldig wachsen“, meint der Senior, Erhard Wissler. „Wir werden nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen, und wir werden in einem Punkt keine Kompromisse eingehen: bei der Qualität.“
Vater und Sohn, beide erfolgreiche Unternehmer und beide viel herumgekommen in der Welt, nimmt man die Doppelrolle ab. Offenheit, Bodenständigkeit, Integrität, das ist, was hier oben zählt. Der Weg zum vertraulichen Du ist hier für jeden, der es ehrlich meint, kurz. Kein Platz für Allüren – wer gerne und viel mit der Erde arbeitet, der ist irgendwann geerdet. Deshalb sieht man Erhard Wissler nun häufiger mit Schirmmütze, in Overall und Gummistiefeln das Vieh auf die Weide treiben. Der CEO – wie es neudeutsch im Wirtschaftssprech heißt – ist hier in seinem Element. Während sich der 66-Jährige schrittweise von dem verabschiedet, was er den „Krawattenjob“ nennt, hat Matthias, der lange Zeit am Firmensitz am Bodensee lebte, eine provisorische Dachwohnung direkt über der Baustelle bezogen. Der Engelhof, das ist auch für ihn mehr als ein Stück Heimat. Draußen auf der ehemaligen Gastterrasse scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Das Unkraut sprießt hier knöchelhoch aus allen Ritzen, von der Attika des Flachdachs blättert die Farbe ab, während drinnen die Sägen der Handwerker kreischen. „Die Landwirtschaft, die Arbeit mit den Tieren, das war für mich immer ein Ankerpunkt“, sagt der 33-Jährige, während sein Blick hinüberschweift zur Weide, wo ein Dutzend Rinder träge in der Mittagssonne grasen. „Ganz einfach deshalb, weil es ein ehrliches Geschäft ist.“
Ein „magischer Ort“
Während eines Südamerika-Aufenthalts hat Matthias Wissler schätzen gelernt, was er in der Heimat inzwischen vermisst: herzliche Gastfreundschaft. „Wir haben in dieser herrlichen Gegend so viel Potenzial und trotzdem so wenig gastronomische Angebote“, stellt er fest. Der Engelhof soll zu einem Ort werden, an dem man die Zeit vergisst. Ideal am Kreuzungspunkt mehrerer Wanderwege gelegen, mitten im Naturparadies Lenninger Alb. Dafür wollen sie wie ihre Vorfahren alle hier mitanpacken. Vater, Mutter, Geschwister, jeder will seinen Teil zum großen Ziel beitragen, das Matthias Wissler so formuliert: „Dass der Engelhof als magischer Ort wieder aufblüht“.
Von der Bauernwirtschaft zum Landgasthof
Die Geschichte des Engelhofs reicht fast 200 Jahre zurück. 1832 baute der Unterlenninger Schmied Jakob Dangel dort ein Wohnhaus mit Stall und einer Schmiedewerkstatt samt eines Wasch- und Backhauses. In den folgenden Jahrzehnten wechselte das Anwesen mehrfach die Besitzer. 1880 kaufte schließlich der Bauer Johann Jakob Renz das Hofgut, das anschließend über drei Generationen hinweg im Besitz der Familie blieb.
Jakob Renz baute um das Jahr 1900 den Engelhof erstmals zur einfachen Gaststube aus. In Archiv-Aufzeichnungen des Schwäbischen Albvereins wird zu Beginn des Jahrhunderts das Angebot mit selbst gebackenem Brot, hausgemachten Würsten und Bratbirnenmost gepriesen. Jeden Monat saßen dort die Gäste beim Schlachtfest vor dampfenden Schüsseln mit Kesselfleisch und Sauerkraut.
Im Oktober 1935 macht Albert Renz, inzwischen Gastwirt und Nachfahre auf dem Erbhof, das Wirtshaus zum Beherbergungsbetrieb mit acht Gästezimmern. In diesem Zusammenhang wird das Gebäude mehrfach umgebaut und erweitert. Zu einer Katastrophe kommt es am 13. September 1958: Bei einem Großbrand werden Stall und Scheuer des Gehöfts ein Raub der Flammen.
Heinz Wissler übernimmt im Juli 1960 als Pächter zunächst den wieder aufgebauten landwirtschaftlichen Betrieb auf dem Engelhof, ab 1973 betreibt er gemeinsam mit seiner Frau Hertha auch die Gaststätte. Der Beherbergungsbetrieb wird daraufhin eingestellt. Stattdessen erhält die alte Gaststätte einen Flachdach-Anbau, in dem ein moderner Landgasthof ab 1978 Gäste empfängt. Der Engelhof entwickelt sich in den folgenden Jahren zur weithin bekannten Restaurant-Adresse, bis er pünktlich zur Jahrtausendwende für mehr als zwei Jahrzehnte seine Pforten schließt und in einen langen Tiefschlaf versinkt.
Joachim Wissler, einer der Söhne des früheren Engelhof-Wirts, geht einen anderen Weg: Der heute 61-Jährige wird zu einem der hochdekoriertesten Köche Deutschlands und der ganzen Welt: bis 2022 ausgezeichnet mit drei Michelin-Sternen als Küchenchef im Restaurant Vendôme im Grandhotel Schloss Bensberg vor den Toren Kölns. bk