Die Feldwege waren überfüllt, erinnert sich ein 22-jähriger Kirchheimer. Auch andere stimmen ihm zu. Den Namen möchte keiner verraten. „Wir sind überall hin, wo man uns nicht erwischt hat. Wir saßen unter Brücken, an Schulen, auf Feldern – einfach überall. Alle wollten, dass wir stillsitzen, aber wir wollten raus und was erleben.“ Mit den Rädern sind die Jugendlichen bis zur Teck gefahren, in der Hoffnung, dass die Polizei sie nicht findet. Sonst hätte eine Strafe gedroht, sagt der Kirchheimer und ergänzt: „Viele, die ich kenne und die erwischt wurden, mussten über 100 Euro Strafe zahlen.“
Erinnerungen erwachen
Abstandsregelungen, Maskenpflicht, Ausgangssperren und Co. gehören der Vergangenheit an. Der normale Alltag hat wieder Einzug gehalten und die coronabedingten Auflagen sind schon beinahe in Vergessenheit geraten, aber umso länger die Jugendlichen von ihren jeweiligen Erlebnissen erzählen, umso mehr nimmt die Lebenswirklichkeit von damals wieder Gestalt an. Im Gespräch können sie ihr Erstaunen über die in die Ferne gerückten Auflagen nicht unterdrücken. Es platzt aus mehreren heraus: „Ach stimmt, das durfte man ja eine Zeit lang auch nicht!“
Ein 17-jähriger Kirchheimer erinnert sich: „Wir hatten eine Zeit lang keine Schule, weil der Online-Unterricht eingeführt wurde.“ Die Schülerinnen und Schüler hätten zwar Aufgaben bekommen, die hätten aber die wenigsten gemacht. „Man musste schon sehr diszipliniert sein, um das durchzuziehen.“ Zu Beginn hätte wenig funktioniert – auch die Lehrer hätten sich mit dem neuen Programm für den Online-Unterricht schwergetan. Als es schließlich klappte, hätte gefühlt keiner mitgemacht. „Wir haben uns zwar in den Unterricht eingeloggt, dann haben wir aber was anderes gemacht.“ Das kann auch ein 21-Jähriger aus einer Gemeinde in der Teckregion bestätigen: „Am Ende musste ich das Jahr wiederholen.“ Damit sei er nicht allein gewesen. Aber: Nicht jeder hätte das letzte Jahr der Realschule noch mal durchgezogen. Viele seien auch einfach direkt ohne Abschluss arbeiten gegangen.
Spaß gehörte auch dazu
„Es war schon auch eine coole Zeit“, sagt der 22-Jährige mit einem verschmitzten Grinsen. Jeder habe Zeit gehabt, keiner musste arbeiten – weil man nicht durfte – auch Praktika konnten nicht gemacht werden, sagt er. Wenn die Polizei die Jugendlichen draußen erwischt hatte, haben sie sich als schwule Paare ausgegeben, dann hätten sie nichts machen können.
Mit seinen Eltern habe der Kirchheimer Dauerstress gehabt: „Keiner hatte für uns Verständnis.“ Jeder habe sich als „Hilfssheriff“ gesehen. Von der Polizei habe man immer nur gehört: „Maske über die Nase.“ Rentner hätten die Nase gerümpft, wenn sie sie draußen gesehen haben. „Ich war gerade 18 geworden und durfte nach 22 Uhr nicht mehr raus, das war richtig blöd.“ Das hat auch der 21-Jährige erlebt: Er hat mit zwei Kumpels und seiner Freundin gefeiert. Sie waren im Kino und danach bei ihm auf der Terrasse. „Für den 18er war das beschissen, krass beschissen.“
Stundenlang telefoniert
Und dann lauerte da noch die Einsamkeit: „Wir haben uns zwar oft rausgeschlichen, aber genauso oft ging das nicht“, sagt der 22-Jährige. „Ich habe in der Zeit eigentlich den ganzen Tag lang gezockt und gekifft“, sagt der 21-Jährige. In dieser Sache sind sie sich einig: Vor Corona haben sie zwar auch schon gekifft, aber nur zu bestimmten Zeiten, etwa wenn sie mit Freunden abhingen. Durch Corona gab es für sie aber plötzlich keinen Rahmen mehr. „Es war immer langweilig. Ich habe gekifft, wenn ich allein übers Feld gelaufen bin – eigentlich immer, weil ich nie etwas zu tun hatte“, sagt der 22-Jährige. Um nicht immer allein zu sein, haben sie abends oft stundenlang in Gruppen Telefonate geführt. Es sei gar nicht viel gesagt worden, manchmal hätten sie auch einfach nur dabei das Zimmer aufgeräumt. Sie wollten nur nicht allein sein. Und dann gab es da noch diese Kluft, die entstand, weil die Familie des einen geimpft war und die des anderen nicht.
Um sich von alldem abzulenken, haben sich die beiden ein Hobby zugelegt: das Malen und das Musikmachen. Das hat den beiden nicht nur durch die Pandemie geholfen, sondern begleitet sie auch heut noch. Wann immer es der nun wieder gut gefüllt Alltag zulässt, gehen sie ihren damals entdeckten Leidenschaften nach.
Der Arbeitskreis Leben und die Suchtberatungsstelle Kirchheim helfen Menschen, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden oder Suchtprobleme haben. Kontaktinformationen gibt es unter www.ak-leben.de/kirchheim-teck.html oder unter www.landkreis-esslingen.de/start/service/suchtundpraevention.html.