Weshalb waren die damaligen Täter ganz normale Menschen? Weshalb gibt es bis heute Angriffe gegen Juden oder Anschläge auf Synagogen? Diese Fragen stellen Markus Ocker und sein Kollege Jonas Takors am Kirchheimer Schlossgymnasium. Zum Holocaust-Gedenktag versuchen sie, die Fragen vor den versammelten Neuntklässlern zu beantworten. Zwei Dinge sind ihnen dabei besonders wichtig: „Der Holocaust ist nicht plötzlich auf der Wannseekonferenz beschlossen worden.“ Vielmehr habe er sich aus dem schleichenden Antisemitismus heraus weiterentwickelt, den es schon lange vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten gab. Und: „Beim Holocaust geht es nicht nur um irgendwas, was sich in Berlin, Frankfurt oder Köln ereignet hat. Das gab es auch bei uns in Kirchheim.“
Gemeinsam mit Schülern der Jahrgangsstufe I berichtet Jonas Takors über die Täterperspektive – eben über „die ganz normalen Menschen in einer ganz normalen Kleinstadt“. Bereits 1923 gab es in Kirchheim und Umgebung Aufmärsche der NSDAP zur Sommersonnwendfeier, begleitet von Gegendemonstrationen der KPD. Zehn Jahre später ist die NSDAP die einzig verbliebene Partei in Deutschland. Die Sonnwendfeier wird zum „Tag der deutschen Jugend“. Auch in Kirchheim singen die Jugendlichen begeistert „Auf in den Kampf“, selbst wenn sie gar nicht so genau wissen, gegen wen der „Kampf“ gerichtet sein soll.
Wieder zehn Jahre später, 1943, ist der Zweite Weltkrieg eigentlich bereits verloren. Er zieht sich aber noch zwei Jahre hin, bis zur endgültigen Niederlage und zur bedingungslosen Kapitulation. Der Holocaust ist angelaufen, in Deutschland halten zehn Millionen Zwangsarbeiter die Kriegsindustrie und die Lebensmittelversorgung am Laufen. Seit März 1940 gibt es auch in Kirchheim Zwangsarbeiter: „Manche waren nur wenige Tage hier, andere bis zu fünf Jahre.“ Zwangsarbeiter waren aber nicht nur in den großen Unternehmen eingesetzt, sondern auch in vielen kleinen Betrieben, bei Handwerkern und Bauern.
Einen der Kirchheimer Agitatoren der NSDAP stellen Jonas Takors und die Oberstufenschüler in den Mittelpunkt: Walter Olpp. Jonas Takors geht es vor allem um die „Zwiespältigkeit“ von Olpps Aussagen in der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu den meisten anderen habe er sich nach wie vor dazu bekannt, dass er anfangs den Nationalsozialismus für richtig gehalten habe. Er bekannte sich auch dazu, dass er ihn in seinen Grundzügen immer noch befürworte. Allerdings gab er zu Protokoll, dass er Gewalt gegen Andersdenkende abgelehnt habe und dass die Politik der NSDAP aus seiner Sicht eine falsche Richtung genommen habe. Tatsächlich hatte er sich im Lauf der Zeit zunehmend von der NSDAP abgewandt und sich deren führende Vertreter in seinem Umfeld – Kreisleiter Wahler und Gauleiter Murr – zu Feinden gemacht.
Information hilft gegen Agitation
Aus der Vergangenheit geht es am Gedenktag wieder in die Gegenwart: Um gegen rechtes Gedankengut gefeit zu sein, setzen die Neuntklässler auf Information. Details zu den Stolpersteinen in Kirchheim waren ihnen bisher kaum bekannt, ähnlich wie die Schicksale von Kirchheimer Juden oder von Zwangsarbeitern: „Es ist etwas ganz anderes, wenn hinter den Zahlen im Geschichtsbuch plötzlich Namen und Einzelschicksale stehen.“ Der Gedenktag an ihrer Schule hat also einen seiner Zwecke erfüllt: Die Menschen der näheren Zukunft haben die Chance, auch in der Gegenwart entsprechende Tendenzen zu erkennen, sich dagegen zu wehren und somit „ganz normale Menschen“ zu bleiben, ohne zu den Tätern von morgen zu werden.