Kirchheim
Der Holocaust ist nicht allzu weit weg

Gedenktag Am Schlossgymnasium werden die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht verdrängt. Jedes Jahr gibt es eine besondere Geschichtsstunde. Von Andreas Volz

Ist es zu weit weg? Das ist die Frage, die Markus Ocker den Neuntklässlern am Kirchheimer Schlossgymnasium stellt, am Holocaust-Gedenktag, 77 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee.

 

In Hitler den Heiland zu sehen, war für Julius von Jan eine Sünde gegen das erste Gebot.
Jens Wörner
Lehrer am Schlossgymnasium

Auschwitz liegt tatsächlich nicht gerade in der Nähe. Aber  Markus Ocker und seine beiden Kollegen – Jonas Takors und Jens Wörner – empfehlen den Neuntklässlern, trotzdem einmal hinzureisen, um vor Ort  einen Eindruck vom Ausmaß der Verbrechen bekommen zu können.

Andererseits war dieses Lager „nur eins von über tausend, in denen der Völkermord begangen wurde, in denen Zwangsarbeit geleistet wurde“, wie es Jonas Takors formuliert. Über die Zwangsarbeit kommt das Thema plötzlich ganz nahe: „Den Nationalsozialismus gab es auch in Kirchheim. Über 1 600 Zwangsarbeiter gab es hier.“

Markus Ocker zeigt einen Kleiderbügel. „Albert Salmon Kirchheim Teck“ steht darauf. Auch dieser Bügel bezeugt, dass die Geschichte des Holocaust nicht nur irgendwo in Deutschland spielt, sondern auch in Kirchheim. „Albert Salmon war ein angesehener Kirchheimer Geschäftsmann“, erzählt Markus Ocker. „Mehr als 30 Jahre lang war er hier Mitglied der Feuerwehr. Seit 1898 kauften die Kirchheimer bei ihm ein.“

1933 stand aber auch vor Albert Salmons Laden ein Posten, der die Leute am Betreten hinderte. „Man hat sich später erzählt, dass dieser Mann selber noch Ratenschulden bei Albert Salmon hatte.“ 1936 musste Albert Salmon sein Geschäft verkaufen. 1938 gelang ihm mit Hilfe seiner Söhne die Auswanderung in die USA. Andernfalls wäre er wohl in einem der Vernichtungslager getötet worden.

Im November 1938 brannten in ganz Deutschland Synagogen – und Geschäfte, deren Inhaber Juden waren. In Kirchheim wurde nichts zerstört: „Das lag vor allem daran, dass die Geschäfte mit jüdischen Inhabern gar nicht mehr bestanden.“ Trotzdem hatte die „Reichspogromnacht“ in Kirchheim und Umgebung ihre Folgen: Julius von Jan, seit 1935 Pfarrer in Oberlenningen, hat die Verfehlungen wenige Tage darauf in seiner Bußtagspredigt ohne Umschweife angeprangert.

Jens Wörner stellt den Neuntklässlern diesen Pfarrer vor: Als 17-Jähriger meldete er sich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger. Nach dem Krieg studierte er Theologie wurde Pfarrer. „Schon früh hat er erkannt, dass der Nationalsozialismus nicht mit dem Christentum vereinbar ist“, sagt Jens Wörner. In seiner Bußtagspredigt bezog Julius von Jan klar Stellung: „Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden – das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man darüber nicht zu sprechen wagt.“ Die NSDAP schickte einen Schlägertrupp. Der Pfarrer erhielt Berufsverbot und wurde aus Württemberg ausgewiesen.

„Keiner von uns ist nur gut“

1964 starb Julius von Jan. 2018 hat ihn die Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Die Auszeichnung erfolgte spät – auch, weil Julius von Jan sich nicht immer so eindeutig positioniert hat wie in seiner Bußtagspredigt. Es sind auch Sätze überliefert, in denen er sich über den „verderblichen Einfluss des Judentums“ auslässt. Markus Ocker zufolge war Julius von Jan eben nicht nur der „strahlende Held“, sondern auch „Kind seiner Zeit“. Da werde „das Zwiespältige von uns Menschen deutlich, denn keiner von uns ist nur gut“. Julius von Jan sei aber sehr mutig gewesen: „Er hat sich getraut, etwas zu sagen – auch auf die Gefahr hin, dass er dann selbst zum Ziel von Angriffen wurde.“