Als der Punkt auf die Tagesordnung rückte, konnte niemand wissen, was sein würde. Am Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine wurde aus einem routinemäßigen Zwischenbericht plötzlich ein „Thema, das uns alle trifft“. Die Ereignisse des Tages hatten nicht nur beim Esslinger Landrat Heinz Eininger Spuren hinterlassen, als es im Kreis-Sozialausschuss am Donnerstagabend um die aktuellen Flüchtlingszahlen ging. Was sich bis dahin niemand hatte vorstellen können, dass wieder Krieg herrscht in Europa, könnte schon bald dazu führen, dass sich erneut Menschenmassen in Bewegung setzen, um fern der Heimat Schutz zu finden. Obwohl es im Moment keine klaren Prognosen gibt, gehen erste Schätzungen von bis zu fünf Millionen Menschen aus, die in den kommenden Wochen und Monaten aus den besetzten ukrainischen Gebieten flüchten werden.
Seit Oktober steigen die Zuwanderungszahlen im Südwesten Deutschlands wieder deutlich an. Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der Asylsuchenden in Baden-Württemberg mit 14 442 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Die zuständigen Stellen im Landkreis rechnen zurzeit noch mit einer Zuweisung von 120 Personen im Monat. 2015 waren es knapp 1000. Ob es dabei bleibt, weiß im Moment noch niemand. Eininger, der sich in den vergangenen Tagen mit Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl kurzschloss, erwartet vom Land, dass es seine eigenen Kapazitäten an Notquartieren vollständig ausschöpft und die Unterbringung bei der Finanzierung als Daueraufgabe ansieht. „Wir haben uns in den Hauptjahren 2015 und danach nicht auseinanderdividieren lassen mit den Kommunen“, sagt der Landrat. „Ich erwarte jetzt auch von der Landesregierung, dass sie solidarisch handelt.“ Kritik richtet sich nicht nur gegen den Verzicht des Landes auf eine Erstaufnahmeeinrichtung in Meßstetten. Das Land schuldet dem Kreis auch noch immer 21 Millionen Euro für die Unterbringung in der Zeit nach 2017. Gleichzeitig drängen die Landkreise auf die Beibehaltung der sogenannten Spitzabrechnung, die sich an realen Kosten orientiert. Für den Landkreis ist das Thema von besonderer Bedeutung, weil hier viele Menschen auf engstem Raum leben und dadurch die Preise für Anmietung und Kauf von Unterkünften besonders hoch sind.
Zum Jahreswechsel standen in Gemeinschaftsunterkünften im Kreis 1360 Plätze zur Verfügung, von denen mehr als 80 Prozent belegt sind. Seit Dezember ist es gelungen, Räume für 163 Menschen neu anzumieten. Die Suche gestaltet sich schwierig, weil viele Objekte, die vor Jahren noch als Quartiere dienten, inzwischen anderweitig genutzt werden oder verschwunden sind. Umso wichtiger sind feste Einrichtungen wie in der Kirchheimer Charlottenstraße oder in Hochdorf, wo zusammen Raum für mehr als 250 Menschen ist. „Wir kämpfen um jeden verfügbaren Platz und arbeiten dabei Hand in Hand mit den Kommunen“, betont Eininger, der nun auf grünes Licht aus dem Regierungspräsidium hoffen muss. Dort liegen seit 19. Januar Vorschläge für 505 zusätzliche Mietplätze an sieben Standorten zur Genehmigung, die erst auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüft werden. Für den Landrat eine viel zu lange Zeit. Er warnt: „Wenn wir hier nicht zügig handeln, kommen diese Verträge nicht zustande.“ Derweil kümmert sich der Kreis auf eigene Rechnung darum, Gemeinschaftsräume in den Sammelunterkünften mit WLAN auszustatten. Partner ist Freifunk Stuttgart, ein gemeinnütziger Verein, der von ehrenamtlichen IT-Fachleuten getragen wird.
Bis auf AfD und Republikaner, die eine Vorzugsbehandlung gegenüber anderen sozial Schwachen wittern, halten alle Fraktionen diesen Schritt für wichtig. Dabei gehe es nicht nur um Familienkontakt, sondern auch um die Online-Vermittlung von Arbeit und Bildung, betont Wilfried Veeser (CDU). „Wer persönlich erlebt, was es bedeutet, wenn ein Neunjähriger für ein paar Minuten Kontakt zu seiner Mutter in Damaskus haben kann, wird über den Sinn dieser Einrichtung nicht streiten“, sagt Linken-Sprecher Martin Auerbach.