Kirchheim
Der Tumor muss warten

Corona Um die wachsende Zahl schwerstkranker Covid-Patienten versorgen zu können, verschieben Kliniken weiterhin intensivpflichtige OPs. Eine Ärztin berichtet, was das für Patientinnen und Patienten bedeutet. Von Antje Dörr  

Im Landkreis Esslingen arbeiten die Intensivstationen der Medius-Kliniken und des Klinikums Esslingen nun schon seit Wochen am Limit. Die Zahl der Neuinfektionen ist so hoch wie nie, und die Stationen sind voll mit größtenteils ungeimpften Covid-Patienten, denen es zum Teil so schlecht geht, dass sie intubiert werden müssen. Und das teils über Wochen. 

 

Patienten mit Covid liegen oft mehrere Wochen.
Sarah Rivinius
Ärztin am Klinikum Esslingen über fehlende Intensiv-Betten für Nicht-Covid-Patienten
 

Leidtragende dieses Schicksals, das in den allermeisten Fällen vermeidbar gewesen wäre, sind Patienten, die sich ihre Krankheit nicht ausgesucht haben. „Verschobene OPs“ heißt das Stichwort, das beschreibt, wie die Kliniken versuchen, Platz zu schaffen für Covid-Patienten. Und das auf Intensivstationen, die im Laufe der Pandemie ohnehin häufig verkleinert werden mussten, weil Personal fehlt. „Auf der chirurgischen Intensivstation können wir zur Zeit von 14 Betten nur zehn belegen, aufgrund von Personalmangel“, sagt Sarah Rivinius, Anästhesistin am Klinikum Esslingen.

Die Medizinerin schildert den Fall einer Patientin, der stellvertretend dafür steht, was am Klinikum und in vielen anderen Intensivstationen im Lan trauriger Alltag ist. „Kürzlich hatten wir eine Patientin mit einem bösartigen Tumor, die nicht operiert werden konnte, weil wir kein Intensiv-Bett für sie hatten“, sagt Sarah Rivinius. Die Patientin sei natürlich völlig verzweifelt gewesen und habe große Angst gehabt, dass sich Metastasen bilden. „Das wird ja auch wahrscheinlicher, wenn man länger wartet“. Onkologie gehe zwar eigentlich vor, aber wenn die Operation einen Intensivplatz erfordere, müsse die OP trotzdem geschoben werden, wenn kein Bett frei sei. „Das ist für die Patienten und ihre Angehörigen massiv belastend, und für uns auch“, sagt Rivinius.

Auch die wohnortnahe Notfallversorgung ist durch die große Zahl intensivpflichtiger Covid-Patienten nicht mehr durchgehend gewährleistet. Dass man mit einem Herzinfarkt oder Schlaganfall kein Bett in der Nähe bekommt, ist die eine Sache. Das Problem sei jedoch, dass man die Patienten häufig gar nicht verlegt bekomme, sagt Rivinius. „Kürzlich hatten wir einen jungen Mann mit Hirnblutung, den wir weder in Stuttgart, Tübingen noch Ludwigsburg unterbringen konnten. Der Heli konnte ihn dann in eine fast 100 Kilometer entfernte neurochirurgische Klinik fliegen."

Sarah Rivinius hat kein Verständnis dafür, dass Menschen sich nicht impfen lassen. „Fast alle Patienten, die bei uns liegen, sind ungeimpft“, sagt sie. Das Problem bei Covid-Erkrankten sei auch die immens lange Liegedauer auf der Intensivstation, sagt Rivinius. „Ein Patient mit Lungenkrebs bleibt nach seiner OP ein paar Tage. Patienten mit Covid liegen oft mehrere Wochen.“ Für einen ungeimpften Covidpatienten, der auf Intensivstation liegt, könnte man vier, möglicherweise auch deutlich mehr "normale" chirurgische Intensivpatienten behandeln, rechnet Rivinius vor. Der Arbeitsaufwand bei einem isolierten Covid-Patienten sei für die Pflegekräfte auch viel höher als bei chirurgischen Patienten. „Dadurch können weniger Intensivbetten belegt werden, je mehr Covid-Patienten da sind.“

Zahl der Covid-Patienten in den Kliniken steigt

Im Klinikum Esslingen liegen im Moment neun Covid-Patienten auf den Intensivstationen. „Die Zahlen steigen auch auf unseren Isolierstationen deutlich. Im Moment sind es 20 Corona-Patienten“, sagt Pressesprecherin Dr. Anja Dietze. Operationen müssten verschoben werden, und es sei eine tägliche enge Abstimmung aller Beteiligten erforderlich, um möglichst allen Erkrankten – auch Nicht-Corona-Patienten – gerecht zu werden. „Das wird gerade von Tag zu Tag schwieriger“, sagt Dietze.

In den Medius-Kliniken in Trägerschaft des Landkreises Esslingen werden an den drei Standorten in Kirchheim, Nürtingen und Ruit 89 Covid-Patienten versorgt. 69 liegen auf Isolationsstationen, 20 auf Intensivstationen. Von ihnen sind elf intubiert, neun benötigen Sauerstoffgaben. „Die Zahlen sind erheblich gestiegen“, sagt Pressesprecher Jan Schnack. „Vor einer Woche waren es noch 76 Covid-Patien­ten.“ adö