Kirchheim
Der wichtigste Aufsatz der Schullaufbahn

Abitur Am Mittwoch, 26. April, stand Deutsch auf dem Prüfungsplan. Wer nicht mitgeschrieben hat, muss sich dem mündlichen Examen stellen. Von Andreas Volz

Es hat sich so manches geändert beim Abitur: So steht das Fach Deutsch nicht mehr am Beginn der schriftlichen Prüfungen, und es ist auch an den allgemeinbildenden Gymnasien keine Pflicht mehr, den Deutsch-Aufsatz mitzuschreiben. Komplett kommen die Abiturienten allerdings nicht um das Fach herum: Wer sich gegen den Aufsatz entscheidet, muss sein literarisches und sonstiges fachspezifisches Wissen in der mündlichen Prüfung unter Beweis stellen.

Was sich hingegen nicht geändert hat: Wer mitschreibt, deckt sich häufig mit Vorräten unterschiedlichster Art ein. Dazu gehören mitunter Stifte in 20 Farben. Dazu gehören manchmal aber auch Verpflegungsrationen, mit denen man notfalls drei Tage in der Wüste überlebt. Dabei liegt die maximale Zeitdauer, die am Mittwoch für den Aufsatz zur Verfügung stand, bei nicht ganz sechs Stunden.

Was von Seiten der Schulen fein säuberlich vorbereitet war und gestapelt in den Prüfungsräumen lag: die Bücher zu den Schwerpunktthemen. An den allgemeinbildenden Gymnasien sind das Georg Büchners „Woyzeck“, „Der Verschollene“ von Franz Kafka, „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann sowie Juli Zehs „Corpus Delicti“.

Allerdings wären diese Bücher gar nicht alle benötigt worden: Zum „Corpus Delicti“ gab es keine Aufgabenstellung, und die Lehrkräfte konnten – morgens um 6 Uhr – bei den Aufgaben zur Pflichtlektüre auswählen zwischen „Woyzeck“ einerseits und einer gemeinsamen Betrachtung des Verschollenen und des Hochstaplers andererseits.

Büchners aktuelle Sozialkritik

Der vorgegebene Interpretationsansatz zu Büchner ließ nichts davon erahnen, dass dessen Dramenfragment schon bald 200 Jahre alt ist. Hochaktuell kommt die Aussage des Literaturwissenschaftlers David G. Richards über die Struktur einer Gesellschaft daher, „in der ein Mann wie Woyzeck eine kleine Familie nicht unterhalten kann, ohne sich Tag und Nacht mit erschöpfender und oft entwürdigender Arbeit abzuarbeiten“.

Der Vergleich zwischen Karl Roßmann und Felix Krull stand im Zeichen eines Zitats von Erik H. Erikson. Demnach haben es Jugendliche in ihrer Rollenfindung mit zwei Stoßrichtungen zu tun: Entweder geht es um das eigene Selbstgefühl oder aber um das Bild, das die anderen von einem haben. Letzteres scheine den Jugendlichen wichtiger zu sein. Auch das ein aktuelles Thema – in Zeiten, in denen viele Menschen, gerade auch junge Menschen, wortwörtlich ihre eigenen Bilder, und damit auch ihr Image, selbst projizieren und verbreiten.

Kurzprosa oder Gedichtvergleich: Der Eremit setzt bei Alfred Polgar dem Ich-Erzähler erst lange die Ideale der Bedürfnislosigkeit auseinander – um dann doch, entgegen seiner Lehre, auf einem satten Honorar zu bestehen. Im Gedichtvergleich ging es um Einsamkeit und Verlorenheit: Während aber bei Ludwig Tieck („Nacht“) auch die entferntesten Sterne dem „Wandersmann“ noch Trost zusprechen, gibt es bei Rose Ausländer („Fremde“) zwar noch Hoffnung für die staatenlosen Migranten – aber nur manchmal und nur in nächtlichen Träumen, bevor sie wieder in der harten Realität erwachen.

Missbrauch von Macht und Sprache   

Die dritte Auswahlmöglichkeit bestand für die Lehrkräfte am Schloss- wie am Ludwig-Uhland-Gymnasium zwischen einem materialgestützten Aufsatz zum Rhetorik-Thema „Macht durch Sprache“ und der inhaltlich ähnlichen Erörterung eines Texts von Henning Lobin mit der Überschrift „Warum wir eine Ethik der Metapher brauchen“. In beiden Fällen ging es um den Missbrauch, den Mächtige mitunter betreiben – sowohl um den Missbrauch ihrer Macht als auch um den Missbrauch der Sprache.

Zerrissenheit des Steppenwolfs

An den Beruflichen Gymnasien – WG an der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule und TG an der Max-Eyth-Schule – gab es teils auch andere Aufgaben: So war die Zerrissenheit Harry Hallers aus Hesses „Stepppenwolf“ und Heinrich Fausts bei Goethe zu untersuchen. Beim Essay ging es um vorgegebene Texte zum Thema „Identität und Rolle“, und bei der Textanalyse hatten die Lehrkräfte die Auswahl zwischen einem Text über Hierarchien in der Arbeitswelt und einem Text über den „Zwang zum Gendern“.

In der schulischen Hierarchie sind jetzt die Lehrkräfte selbst am Zug – indem sie die Aufsätze korrigieren dürfen. Die schriftlichen Prüfungen dauern noch bis Freitag, 5. Mai: Wer Französisch als Prüfungsfach gewählt hat, kann dann zum Abschluss noch ganz andere Sprachkenntnisse unter Beweis stellen als am Mittwoch.