Kirchheim
Dialektdichtung bietet Überraschendes

Lesung Helmuth Mojem und Monika Wolf geben in der Kirchheimer Stadtbücherei einen speziellen literarischen Einblick ins 19. Jahrhundert. Von Ulrich Staehle

Seit Samstag ist im Literarischen Museum im Max-Eyth-Haus die außerordentlich interessante Ausstellung „Baden-Württemberg erzählt“ zu sehen. In einem Podiumsgespräch wurde bei der Eröffnung über den Stellenwert des Dialekts diskutiert, ein Hauptthema der Ausstellung.

 

Der Dialekt schafft eine beinahe kindliche Fröhlichkeit.
Dr. Helmuth Mojem
schwärmt über die Dichtkunst von Sebastian Sailer.

 

Als Begleitprogramm dazu wurde am Sonntag in einer Matinee in der Stadtbücherei „Der Dialekt in der Literatur“ vorgestellt. Stefanie Schwarzenbek konnte im Namen des Literaturbeirats den Leiter des Cotta-Archivs im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Professor Dr. Helmuth Mojem, begrüßen, einen in Kirchheim hochgeschätzten Referenten.

Dialekt erschwert die Rezeption

Mojems Spezialgebiet ist die Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere im deutschen Südwesten, und er stellte gleich klar, dass es in dieser Zeit einen ganzen Schwarm schwäbischer Dichter gab, auf die die Schwaben doch so stolz sind: Schiller, Mörike, Hauff, auch die Kirchheimer Hermann und Isolde Kurz und Max Eyth, um nur einige zu nennen: „Aber kaum jemand unter ihnen hat tatsächlich Dialektliteratur verfasst.“ Das hätte die Rezeption ihrer Werke erheblich eingeschränkt.

Als ersten Autor, „der eher den landläufigen Vorstellungen von einem Mundartdichter entspricht“, stellte der Referent Joseph Epple vor, der in der ers­ten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusiedeln ist und überregional bekannt war. Bei Dialektdichtung gibt es eine Schwierigkeit: Die Verschriftlichung ist schwer zu lesen.

Erst mit der Rezitation eines Originalschwaben, in diesem Fall einer Originalschwäbin, bekommen Texte ihre Strahlkraft. Dafür hat Mojem die Lehrerin Monika Wolf mitgebracht. Sie las von Epple das Gedicht „Besondere Rache“. Es handelt von einer einsamen Witwe, die sich bei der Mutter Gottes beklagt, dass ihr der einzige Sohn durch den Militärdienst entrissen wurde. Als kein Gebet hilft, entreißt sie der Marienstatue das Jesuskind.

Wie bei jedem vorgetragenen Text stellt der Referent die Frage: Was bringt der Dialekt gegenüber der Hochsprache? In diesem Fall bringt er nicht die von der Volksdichtung erwartete Geborgenheit, sondern der Volksschullehrer Epple in Schwäbisch Gmünd dürfte sein katholisches Umfeld stark provoziert haben, gerade durch den Dialekt. Mojem: „Er verleiht in seiner Urwüchsigkeit und Unverblümtheit dem Geschehen, dem Handeln und Reden der Witwe starke Authentizität.“

Im nächsten Text kam, jawohl, Mörike zu Gehör, der mit „Zwei Kameraden“ einen dichterischen Ausflug in seine schwäbische Mundart macht. Aus einer alltäglich scheinenden Begegnung zweier Partner entwickelt sich das schauerliche Thema Hochzeit im Totenbett. Der Dialekt gibt dem Gedicht zwar etwas Volksliedhaftes. Aber wieder schafft er keine Geborgenheit, sondern Distanz zum Leser.

Ins Schwärmen gerät Mojem bei einem „klassischen Meisterstück“ der Dialektdichtung des 18. Jahrhunderts: die „Schwäbische Schöpfung“ von Sebastian Sailer (1714 – 1777). Dieser lebte als Prämonstratenser im Kloster Obermarchtal und war Pfarrer und Prediger. Rezitation und Erklärungen wechselten sich nun auf dem Podium ab. Der Dialekt schafft, so Mojem, „eine beinahe kindliche Fröhlichkeit“. Köstlich und hochaktuell Evas Klage über ihre Rolle als untertänige Hausfrau. Der Dialekt bildet „den Reiz, das Vertraute – die biblische Schöpfungsgeschichte – verfremdet nahegebracht zu bekommen“.

Der Referent ergriff nun die Gelegenheit für „allgemeine Betrachtungen zum Genre der Dialektdichtung“. Sie steht „im Ruf besonderer Urwüchsigkeit, Echtheit und Natürlichkeit“. Sie befasst sich „in der Regel mit alltäglichen Begebenheiten, die unteren Stände als Personal“. Die Perspektive von unten schafft oft eine kritische oder satirische Haltung.

Mojem wies noch auf die „anspruchsvollste Dialektveröffentlichung der deutschen Literatur“ hin, Johann Peter Hebels „Alemannische Gedichte“.

Nach dem intensiven Einblick in Dialektdichtung des 18. und 19. Jahrhunderts darf man gespannt sein auf das weitere Begleitprogramm der Ausstellung, das sich mit der Befindlichkeit der Dialektdichtung in der Neuzeit befassen wird.