Kirchheim
Die Ära mit dem Türmchen endet

Stadthistorie Ein altbekannter Anblick verschwindet: Das Most-Gebäude an der Alleenstraße muss einem Neubau weichen. Hinter dem prägenden Gebäude steckt eine jahrhundertelange Geschichte. Von Anne Hermann

Sein Schicksal ist schon lange besiegelt. Nach jahrelangem Leerstand steht der Abriss des stadtbildprägenden Eckgebäudes in der oberen Alleenstraße 16 und Schülestraße unmittelbar bevor.

Das Gebäude stammt vermutlich aus dem 17. Jahrhundert und wurde von den wechselnden Eigentümern stets behutsam weiterentwickelt und angepasst. Schon die Ansicht von Kirchheim aus dem Kieserschen Forstlagerbuch von 1683 bis 1685 zeigt das traufständische Gebäude, das sich im Gegensatz zur heutigen Situation außerhalb der Kernstadt zwischen Lauter und Schloss mit Festigungsanlage befand. Archivalische Nachforschungen belegen eine zweistöckige Behausung mit einem getrennten Keller in der Ötlinger Vorstadt. Besitzer war der aus Weilheim zugezogene Weingärtner Georg Zwißler. 1696 verkaufte dessen Witwe Anna Barbara Zwißler ein halbes Haus an ihren Stiefsohn Hans Wilhelm Zwißler.

Für 18 000 Mark verkauft

Wie sämtliche Gebäude in den Vorstädten blieb es von dem verheerenden Stadtbrand von 1690 verschont. Der Stadtbrand, dem 257 Häuser in der Innenstadt zum Opfer fielen, stellte baugeschichtlich eine Zäsur für Kirchheim dar. 1788 erschien ein Weißgerber namens Hans Jerg Kenngott als Eigentümer. Zu dieser Zeit wurde an das Gebäude eine Scheuer angebaut. Es diente der Familie Kenngott vor allem zum Wohnen. 1828 erwarb Johann Georg Kenngott die benachbarte Schildwirtschaft „Zum Hecht“ in der Alleenstraße 14 für 3 100 Gulden. Dieses heute noch bestehende Fachwerkgebäude wurde 1570 als Forsthaus errichtet und seit 1662 als Gastwirtschaft genutzt.

1842 verkauften die Erben der Witwe des letzten Weißgerbers Johann Georg Kenngott das Haus an Zimmermeister Gottlieb Nieffer. Auf ihn geht das zeittypische Zwerchhaus an der Vorderseite zur Alleenstraße zurück, das er 1846 in den Bau integrierte. Nieffer arrondierte seinen Besitz durch Zukäufe im westlichen Areal. So erwarb er ein frei stehendes Nachbargebäude an der heutigen Schülestraße, das er 1858 abbrechen ließ, um die frei gewordene Fläche für einen Anbau zu nutzen. Bis heute hat sich dieser Bau in Maßstäblichkeit und Erscheinungsbild erhalten.

1892 ging der Gebäudekomplex im Zuge der Realteilung an Nieffers Schwiegersohn Gottlieb Most für 18 000 Mark über. Auch er hinterließ seine zeittypischen Spuren, indem er 1894 dem Gebäude den markanten dreistöckigen Erker mit Zeltdach im Stil des Historismus verlieh. Gottlieb Most ist der Stammvater der Bauunternehmerfamilie Most, die heute in fünfter Generation tätig ist. Nach seiner Ausbildung zum Bauwerkmeister begann er seine Karriere in Kirchheim mit der Übernahme der Bauleitung am neuen Oberamtsgericht. 1872 heiratete er Emilie Nieffer und gründete ein Baugeschäft, das einen raschen Aufstieg nahm und sich zum Branchenführer entwickelte. Gottlieb Most baute nicht nur für namhafte Industrieunternehmen, sondern auch für öffentliche und private Auftraggeber. Davon zeugen heute noch die katholische Kirche St. Ulrich sowie zahlreiche Privatgebäude, die im Zuge der Stadterweiterung gebaut wurden.

1879 errichtete er eine Zementfabrik, die 1909 einem Brand zum Opfer fiel. Der Name Zementstraße erinnert an den einst staubigen Weg vom Ziegelwasen zur Fabrik im Katzensteigle. Nach Gottlieb Mosts Tod im Jahr 1904 führten seine Ehefrau Emilie Most und seine Söhne das Bau- und Zementgeschäft mit einer Baustoffhandlung weiter. Anfang der 1920er-Jahre wurden die Geschäftsfelder auch auf den Hoch-, Tief- und Straßenbau ausgeweitet. Nachdem aufgrund der räumlichen Enge bereits 1980 das Bauunternehmen mit Bauhof, Werkstatt und Fuhrpark nach Dettingen in die Kelterstraße umgezogen war, folgte Anfang 1993 auch die Verwaltung.

Anfänglich wurde das Objekt noch an die Volkshochschule und an Spätaussiedler vermietet. Doch mit dem Verlust seiner einstigen Funktion, hatte der rund 100 Jahre alte Firmensitz in der oberen Alleenstraße 16 immer mehr an Wertschätzung verloren. In den vergangenen Jahren stand es leer und wurde dem Verfall preisgegeben. Nun bleibt zu hoffen, dass an dieser sensiblen Lage ein Bauwerk entsteht, das sich in das historisch bedeutende Umfeld einfügt und das Stadtbild bereichert.