Frauenhaus
Die Angst ist ein ständiger Begleiter

Die Fälle der häuslichen Gewalt nehmen deutschlandweit zu. Im Kirchheimer Frauenhaus finden Betroffene und ihre Kinder Hilfe.

Opfer häuslicher Gewalt leben mit einer ständigen Angst. Symbol-Bild: Markus Brändli

Marta sitzt neben Kerstin Bergdorf im Büro des Kirchheimer Vereins „Frauen helfen Frauen“, der das Frauenhaus der Stadt betreut. Marta, die ihren richtigen Namen aus Sicherheitsgründen ebenso wenig nennen kann wie ihre genaue Herkunft, hat mit ihren beiden Kindern ab September 2022 für 13 Monate im Kirchheimer Frauenhaus gelebt. Die 36-Jährige hat ein jahrelanges Martyrium der häuslichen Gewalt hinter sich, die durch ihren Ehemann sowohl psychisch als auch physisch ausgeübt wurde. „Wir waren zehn Jahre verheiratet, auch davor war er immer schon sehr emotional und ist von einem Moment auf den anderen ausgerastet.

 

Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich frei wie ein Vogel.

Marta

 

 

Die Kinder mussten das alles miterleben. Ich konnte sie nicht davor schützen“, erzählt die junge Mutter. Ihr Mann bedrohte sie, verwehrte ihr ihr eigenes Geld, isolierte und kontrollierte sie. Hilfe von Verwandten bekam Marta keine, ihre eigenen Eltern, denen sie sich anvertraut hatte, schenkten ihr keinen Glauben: „In meiner Kultur bedeutet die Trennung vom Ehemann den Weltuntergang.“ Heute, zwei Jahre später, sagt Marta: „Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich frei wie ein Vogel.“ Sie hat es geschafft, ihren gewalttätigen Ehemann zu verlassen. Dafür hat sie all ihren Mut zusammengenommen, denn lange war sie für diesen potenziellen Schritt der Trennung von ihm mit dem Tod bedroht worden.

Frauenhäuser sind vernetzt

„In unserer Kultur kommt das tatsächlich immer wieder vor und muss ernst genommen werden. Daher hatte ich zu große Angst, zu gehen“, erzählt die 36-Jährige, die seit sechs Jahren in Deutschland lebt. An diesem einen Tag vor zwei Jahren aber eskalierte die Situation: „Ich hatte keine Zeit mehr, lange darüber nachzudenken. Ich habe Hilfe bei einer Nachbarin gesucht, die die Polizei gerufen hat. Dann habe ich darauf vertraut, dass mich diese mit meinen Kindern an einen sicheren Ort bringt. Wir konnten so nicht mehr weiterleben.“ So kamen Marta und ihre beiden Kinder schließlich weit genug entfernt vom vorherigen Wohnort in Baden-Würt­temberg im Kirchheimer Frauenhaus unter. Weil zu diesem Zeitpunkt dort gerade ein Platz frei war. „Wir sind mit anderen Frauenhäusern in Deutschland vernetzt“, erklärt Kerstin Bergdorf. Gerade auch, wenn es für die Betroffenen zu gefährlich sei, in der Nähe des Täters zu bleiben, müsse der Wohnort wie im Falle von Marta gewechselt werden. Als sie im Kirchheimer Frauenhaus ankam – im Landkreis Esslingen gibt es ansonsten noch eines in Esslingen und in Filderstadt –, sei sie sehr erleichtert gewesen und sehr dankbar über die im Frauenhaus erfahrene Hilfe. Emotional wie auch durch die tatkräftige Unterstützung beim Start in ein neues Leben, sagt Marta.

„Dazu zählt zum Beispiel unsere Zusammenarbeit mit dem Jobcenter, am Anfang ist hier viel Bürokratie zu bewältigen“, erklärt Kerstin Bergdorf. Viele Anträge müssen ausgefüllt werden. Im Fall von Marta musste zudem erst mal ein eigenes Konto eingerichtet werden, auch ein neues Handy war nötig. „Dafür gibt es eine Schutztasche, die keine Strahlung nach außen abgibt. Als Vorsichtsmaßnahme, dass das Handy nicht per GPS geortet werden kann“, beschreibt Kerstin Bergdorf eines von vielen Details, die es für die betroffenen Frauen zu beachten gilt: „Die digitale Gewalt nimmt zu. Die neuen Techniken sind hier Fluch und Segen zugleich.“ Viel Geduld ist für die Anerkennung von Martas beruflichen Dokumenten gefragt, um bestenfalls auch in Deutschland wieder in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten zu können. Auch hier dürfen keine Details genannt werden, damit Marta für ihren Ehemann so „unsichtbar“ wie möglich bleibt. „Die Frauen brauchen ein Stück weit eine neue Identität“, so Bergdorf. 

Kerstin Bergdorf gehört zum Team, das die Frauen in ihrem neuen Alltag begleitet und berät. Foto: Carsten Riedl

In der Regel bleiben die Frauen im Schnitt bis zu sechs Monate im Kirchheimer Frauenhaus. Die Belegung ist konstant hoch, die Warteliste lang. Fünf Zimmer für fünf Frauen stehen zur Verfügung. Die Kinder mitgerechnet, finden bis zu zwölf Personen Platz. Der Raumbedarf ist laut Kerstin Bergdorf weitaus höher. Ziel ist es daher, dass die Frauen so bald wie möglich in eine eigene Mietwohnung umziehen können. „Die angespannte Lage am Wohnungsmarkt erleichtert das nicht gerade“, sagt Kerstin Bergdorf. Auch bei Marta zog sich die Suche, mittlerweile ist sie mit ihren Kindern in den eigenen vier Wänden glücklich. Auch die Suche nach Kita-Plätzen oder bei einem Kinderarzt unterzukommen sei ein großes Thema. Nach dem Auszug aus dem Frauenhaus bleibt dieses für die Betroffenen weiterhin eine beratende Anlaufstelle. 

Häusliche Gewalt nimmt zu

256.276 Menschen wurden 2023 in Deutschland laut Kriminalstatistik Opfer häuslicher Gewalt, davon sind 70 Prozent weiblich. Das entspricht einem Anstieg um 6,5 Prozent im Vergleich zum Jahr 2022. 78.341 Menschen wurden 2023 Opfer innerfamiliärer Gewalt zwischen nahen Angehörigen. „Es passiert überall. In allen Gesellschaftsschichten. Und die Dunkelziffer ist dabei nach wie vor hoch“, so Bergdorf. Im Kirchheimer Frauenhaus sei die Altersspanne bei den Betroffenen recht groß und reiche von etwa 20 Jahren bis um die 60. „Viele Frauen trauen sich aus Scham und Angst lange nicht, über die erlebte Gewalt zu sprechen oder sich Hilfe zu suchen“, weiß Kerstin Bergdorf, „oder sie glauben, selbst schuld zu sein, was ihnen auch häufig eingeredet wird.“

Im Frauenhaus treffen verschiedene Kulturen aufeinander. „Die Sprache ist ein zentrales Thema, oft können wir uns erst mal mit Händen und Füßen verständigen und greifen dann auf den Dolmetscher-Pool der Stadt zurück“, erzählt Kerstin Bergdorf. Die Flüchtlingsthematik spiele in den letzten Jahren schon sichtbar ein Rolle, „zum Beispiel was in deren Kulturen die Geschlechterrollen angeht. Das birgt in den Partnerschaften Konfliktpotenzial, wenn die Frauen dann hier in Europa ein Bild ihrer eigentlichen Rechte bekommen und diese einfordern.“ Das Team des Kirchheimer Frauenhauses hat seine Präventionsarbeit verstärkt, ist unter anderem in den Schulen im Einsatz, „um Hemmschwellen frühzeitig abzubauen." Ebenso für Schulungen der eigenen Mitarbeiterinnen oder für FSJler sowie Pädagoginnen und Pädagogen. „Es geht auch darum, uns als Anlaufstelle noch präsenter zu machen“, so Kerstin Bergdorf. Derzeit arbeiten vier hauptamtliche Sozialpädagoginnen und eine Verwaltungskraft im Kirchheimer Frauenhaus. Es gibt auch das für Frauen offene Angebot einer Stärkungsgruppe. In dem Kurs geht es um Themen wie die Stärkung des Selbstwertgefühls und der Achtsamkeit.

 

Hilfsangebote und Kontaktmöglichkeiten für betroffene Frauen

Plätze Die Suchseite www.frauenhaus-suche.de umfasst derzeit rund 338 von bundesweit 400 Frauenhäusern und Schutzwohnungen. Angezeigt werden unter anderem die aktuell freien Plätze. Über die Eingabe der Postleitzahl und weiterer Kriterien kann gezielt gesucht werden. In Baden-Württemberg gibt es aktuell 46 Anlaufstellen. Im Landkreis Esslingen gibt es derzeit Frauenhäuser in Kirchheim, Esslingen und Filderstadt.

Hilfe Die bundesweit gültige Nummer des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen“ lautet 11 60 16. Das umfassende Beratungsangebot ist anonym, kostenfrei, barrierefrei und in 18 Fremdsprachen verfügbar. Angeboten werden eine telefonische Beratung, eine Online-Beratung sowie bei Bedarf auch in Gebärdensprache. Weitere Infos unter www.hilfetelefon.de

Kirchheim Einen direkten Kontakt zum Kirchheimer Verein „Frauen helfen Frauen“ bekommt man Montag bis Freitag von 8.30 Uhr bis 13 Uhr (oft länger) über die Nummer 0 70 21/4 65 53 oder per Email an info@frauenhaus-kirchheim.de. Die Beratungsstelle befindet sich am Postplatz 7 in Kirchheim. Eine Terminvereinbarung vorab ist notwendig.

Wohnen Das Jobcenter hat für die Wohnungssuche Mietobergrenzen festgelegt. In Kirchheim direkt läge diese für eine Frau mit zwei Kindern bei 825 Euro Bruttokaltmiete. Für eine Frau mit einem Kind in Nürtingen bei 644 Euro, mit drei Kindern in Beuren bei 951 Euro und ohne Kind in Reichenbach bei 555 Euro.