Die Situation ist irgendwie seltsam: Die Kirchheimer SPD lädt wie jedes Jahr zum Neujahrsempfang im Alten Gemeindehaus ein und hat auch wieder einen prominenten Gastredner vor Ort, SWR-Intendant Peter Boudgoust. Trotzdem liegt über der ganzen Veranstaltung etwas Bundespolitisches. In Bonn läuft zur gleichen Zeit der Sonderparteitag der SPD, der über Gespräche zu einer großen Koalition entscheiden wird. Logisch, dass an den Tischen diskutiert wird, Fragen an den Vorsitzenden der Kirchheimer SPD, Martin Mendler, gestellt werden. Doch der will irgendwann mal keine Kommentare mehr abgeben, verweist nur auf die Stimmungslage: Acht von zehn Kirchheimer Vorstandsmitgliedern seien für die „GroKo“.
Die Begrüßung der Gäste übernimmt Walter Aeugle, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Kirchheimer Gemeinderat. Er versucht erst gar nicht, das Thema Große Koalition irgendwie zu umschiffen. Seine Präferenz dazu ist ein klares Ja: „Wenn man die Inhalte des Sondierungspapieres nüchtern und realistisch betrachtet, kann es meines Erachtens nur die Entscheidung geben, so schnell wie möglich Koalitionsverhandlungen aufzunehmen.“ Nach Ansicht Walter Aeugles hat die SPD in den Sondierungen „weit mehr erreicht, als mit einem Wahlergebnis von 20 Prozent zu erwarten war.“ Der Fraktionsvorsitzende war am späten Nachmittag sicher erleichtert, als das inzwischen bekannte Ergebnis vom Sonderparteitag kam: ein „Ja“ zu den Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU.
Doch das ist nicht das Hauptthema des Neujahrsempfangs. Im Mittelpunkt der Ausführungen von SWR-Chef Peter Boudgoust steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk und seine Bedeutung angesichts der aktuellen Diskussionen um „Lügenpresse“, „Fake News“ und „Meinungsblasen“ durch Google, Apple, Facebook & Co. „Wenn ich in meinem privaten Umfeld mit Menschen über unseren Rundfunk spreche“, so Boudgoust, „taucht immer wieder die Frage auf, warum es die Öffentlich-rechtlichen heute noch braucht.“ Die Argumente klingen einleuchtend: Unterhaltung gibt es reichlich per YouTube, Amazon Prime, Netflix oder andere Kanäle, Informationen kommen aus zahllosen Quellen. Da sind die „Öffis“ doch eigentlich überflüssig, oder?
Peter Boudgoust widerspricht mit Nachdruck und fügt schmunzelnd hinzu: „Etwas anderes würden Sie vom Intendanten des zweitgrößten ARD-Senders wohl auch nicht erwarten.“ Fakt sei: „Im Internet gibt es viele Informationen, aber wenig geprüfte Informationen.“ Wahrheit, Lügen und Halbwahrheiten stünden dort genauso nebeneinander wie Informationen von Profis und Laien, neutralen Berichterstattern und solchen, die ganz gezielt eigene Interessen verfolgen.
Genau da sieht er eine wichtige Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. „Wir garantieren verlässliche Informationen, wir recherchieren selbst, wir prüfen Quellen und sind vor Ort“, charakterisiert Boudgoust die Prinzipien der Redaktionen. Vor allem: „Wir sind unabhängig, wir müssen niemandem gefallen, außer unseren Nutzerinnen und Nutzern. Wir sind nicht von Werbegeldern abhängig.“ Also könne man „undercover“ Missstände bei Daimler aufdecken oder Produktionsbedingungen bei Hugo Boss unter die Lupe nehmen.
Dann spricht er noch über die neuen „Gatekeeper“ Google, Facebook und Apple, die Torwächter, die entscheiden, wer welche Information bekommt. Hier kommen zwangsläufig die vielzitierten „Algorithmen“ ins Spiel. Das sind Programme, die jede Aktivität verfolgen, auswerten und letztlich entscheiden, wer was zu sehen bekommt. „Das ist ein lukratives Geschäftsmodell und ihr gutes Recht“, meint Peter Boudgoust. Er sieht aber zwei Probleme: Zum einen werde nur noch die „werberelevante“ Zielgruppe von 14 bis 49 angesprochen, zum anderen entstünden die inzwischen vieldiskutierten „Filterblasen“. Jeder sieht nur noch das, was seine Meinung bestärkt. Da sieht der SWR-Intendant im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein wichtiges Gegengewicht: „Wir stechen die Filterblasen auf und bilden relevante Themen ab.“ Die Redaktionen fragten sich stets, was für die Menschen im Südwesten wichtig ist und ließen nicht die Nachrichten weg, die angeblich nicht ins Weltbild der Nutzer passen. Das Plädoyer für „Qualitätsjournalismus“ endet in der Feststellung, dass es gegen die medialen Zerrbilder im Internet dringend ein Gegengewicht braucht. „Wir können in der digitalen Medienwelt etwas bieten, das mit Blick auf die gesellschaftliche Lage vielleicht nötiger ist denn je.“ - Das gilt nicht nur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.