Man kann schon von Tradition sprechen. Seit zwanzig Jahren gibt es in der Stadtbibliothek Kirchheim einen Leseabend im November, der ausschließlich Frauen vorbehalten ist. Eine in Zusammenarbeit mit dem Pädagoginnen-Treff organisierte Veranstaltung, die aufgeschlossene, kulturbegeisterte und wissensdurstige Frauen anspricht – egal, ob jung oder alt, egal, in welchem Land ihre Wurzeln liegen. „Überwältigend, wie viele Leute da sind“ freuen sich die Pädagoginnen Brigitte Gäbelein und Sonja Hofmann und erinnern an die erste Lesenacht, bei der tatsächlich noch vor Ort übernachtet wurde. Ein einmaliger Versuch, geblieben ist am Ende die obligatorische Gute-Nacht-Geschichte. „Aus anderen Kulturen etwas erfahren und lernen, die aber hier leben, das ist eine Form, die sich bewährt hat“, freut sich Bibliotheksleiterin Carola Abraham.
Doch bevor es sich die Vorleserinnen aus Israel, dem Kosovo und aus der Türkei in ihrer Leseecke gemütlich machen, stimmt das Trio „Leilani“ mit Gesang und Percussion auf den kulturellen Abend ein. Ob Unbekanntes wie „Djigbo“, „Fume Fume“ und „Rakana“, oder Bekanntes wie „Pata Pata“, die Gitarristin Birgit van Straelen, Halyna Burt sowie Mary Ann Fröhlich sorgen mit ihrem afrikanischen Rhythmus für richtig gute Laune – und zwar so, dass sogar getanzt wird.
Von fröhlich bis nachdenklich
Danach war konzentriertes Zuhören und sich Einlassen angesagt. Ob fröhlich, traurig oder nachdenklich – wer der hebräischen, albanischen oder türkischen Sprache nicht mächtig ist, muss bei jeder Vorleserin ganz genau hinschauen, um wenigstens ein bisschen in ihre jeweilige Lebenswelt einzutauchen. Wer verrät sich beim Lesen oder Erzählen mit Emotionen im Gesicht? Wer artikuliert mit Gestik und wer transportiert mit dem Klang seiner Muttersprache passende Gefühle zum Gesagten? Schlüsse über den Inhalt zu ziehen – nicht einfach. Also abwarten, bis die deutsche Version kommt.
Politik bleibt außen vor
So wie bei Maya, die sich das Buch „Seelenvogel“ der Israelin Michal Snunit ausgesucht hat. Geboren in den USA, lebte sie im Alter von acht bis achtzehn Jahren in Israel und kam dann nach Deutschland. Manchmal traurig, manchmal glücklich, sei der Seelenvogel tief in uns drin, erzählt Maya von dem „abstrakten Thema Gefühl, über das man nicht immer die Kontrolle habe – mal entscheiden wir, mal der Vogel.“ Vorgelesen von rechts nach links erklärt die Dreifachmama das Punktsystem, mit dem Kinder spielerisch die Sprache erlernen. Obwohl die Politik bei allen Vorlesungen außen vor bleibt, stellt ihr eine Zuhörerin die Frage, wie sie mit der belastenden Situation in Israel klarkomme. „Man lebt damit“, antwortet die Grafikdesignerin und verrät, dass sie in Israel den Militärdienst verweigert hat.
Pinar kam vor fünf Jahren nach Deutschland, sie studierte Mathematik und habe als Lehrerin einen guten Status. Sie musste raus aus der Türkei. „Auswanderung der Möwen“, nennt sie ihren Text, den sie 2020 mit Unterstützung von Bekannten selbst geschrieben habe. Freiheit statt Brot. „Auf Lebensmittel kann man verzichten, aber nicht auf die Freiheit“, erklärt sie den Inhalt, der für sie Mission und Rückblick in einem ist. In ihrer Landessprache höchst emotional, intensiv und untermalt mit ihrem Regenmacher, empfinden einige Zuhörerinnen die deutsche Übersetzung zu kurz und eine Spur zu kühl.
Lisa spricht gerne Deutsch, träumt aber auf Albanisch, verrät sie in einer lockeren Plauderrunde. Ihr Papa sei stolzer Albaner, ihre Mama Deutsche. Spielerisch etwaige Körperteile aufsagen, so werde mit der Sprache umgegangen, denn: „Baustellendeutsch ist keine Option.“ Auch wenn Lisa viele Schwaben um sich hatte, habe sie laut ihrer Mutter bereits mit vier Jahren gesagt: „Ich heirate einen Albaner.“ Mutter (saß im Publikum) und Tochter, beide haben ihre Entscheidung nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen getroffen. „Das Frauenbild im Kosovo hat sich verbessert, es gibt ihnen mehr Freiheit“, verrät Lisa, muss aber in beiden Ländern feststellen: „Bei manchen geht die Toleranz nur bis zur Haustüre.“ Der Vorteil an Deutschland, dort gehe man besser mit Stress um als im Kosovo.
In einer früheren Fassung des Berichts stand, dass Maya drei Jahre Militärdienst abgeleistet hätte. Dies ist falsch. Tatsächlich hat sie den Militärdienst verweigert.