Ob im privaten oder im öffentlichen Diskurs: Corona ist das beherrschende Thema. Die Debatten werden von vielen immer unversöhnlicher geführt. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, der dem Publikum der Esslinger Literaturtage LesART wohl vertraut ist, geht der Frage nach, weshalb ein sachlicher Dialog über die Pandemie und ihre Auswirkungen vielen so schwerfällt und welche Schlüsse wir daraus ziehen sollten.
Herr Pörksen, wie haben Sie die Corona-Zeit bislang ganz persönlich erlebt? Geben Sie uns doch einen Einblick.
Bernhard Pörksen: Als Mixtur ganz unterschiedlicher Phasen und Stimmungen. Zu Beginn das ungläubige Staunen, dass eine globale Zivilisation derart verletzlich ist. Dann habe ich – manchmal auch in Seminaren mit meinen Studierenden – versucht, Analysen der Krisenkommunikation zu liefern. Das war der mehr oder minder gelungene Versuch, sich irgendwie nützlich zu machen, meist in Form von Artikeln, Vorträgen, Debattenbeiträgen. Schließlich war ich im Jahr 2021 als Fellow für Forschungsarbeiten im Thomas-Mann-House in Los Angeles. Das war eine herrlich intensive Zeit des Gesprächs und der Debatten an diesem historischen Ort, ein mehr als willkommener Ausstieg für mich aus der pandemischen Tristesse.
Sie haben 2018 „die große Gereiztheit“ in unserer Gesellschaft beklagt. Hat sich diese Diagnose in Corona-Zeiten Ihrer Meinung nach noch weiter verstärkt?
Pörksen: Definitiv. Mein kleines Buch über die große Gereiztheit war wesentlich eine grundsätzlich gemeinte Studie zu den Effekten vernetzter Kommunikation. Meine These: Eben weil Kommunikation immer direkter, drängender und penetranter wird, sich Information und Emotion, Öffentliches und Privates, Berührendes, Banales und Bestialisches auf unentwirrbare Weise vermischen, gerät die Gesellschaft in eine Art Überlastungstaumel, eine Stimmung rauschhafter Nervosität. Heute treten andere, konkrete Anlässe hinzu – aktuell etwa die Debatten über die Impfpflicht, die spürbare Feindseligkeit bei den Corona-Protesten, die allgemeine Erschöpfung im dritten Jahr der Pandemie.
Ist diese Gereiztheit normal geworden?
Diese Stimmung wird uns erhalten bleiben, denn die medialen Umwelten, in denen wir hier als Gesellschaft leben, machen die Überforderung für die Menschen alltäglich – auch wenn einzelne Reizthemen in ihrer aufputschenden Kraft wieder schwächer werden.
Welche Rolle spielen denn dabei die sogenannten „sozialen“ Netzwerke?
Sie sind ein wesentlicher Treiber, weil die algorithmische Informationsauswahl die Stichflamme des Spektakels fördert. Das einfache Geschäftsprinzip: Emotionalisierung schafft Aufmerksamkeit. Und sie hält Menschen bei der Stange. Was im Ergebnis bedeutet, dass man ihre Datenspuren auswerten und ihnen gezielt Werbung zuspielen kann. Diese Neuorganisation unseres Diskurs-Universums nach den Geschäftsinteressen der digitalen Werbe- und Erregungsindustrie ist der wahre Kern des Problems.
Die „sozialen“ Netzwerke sind voll von fragwürdigen Meldungen. Lässt sich dieser Wildwuchs noch eindämmen?
Das wird ehrlich gesagt schwer. Zum einen fehlen nach wie vor effektive Modelle der Plattform-Regulierung: Sie müssen effektiv sein in der Bekämpfung von Hass, Hetze und Desinformation. Und sie dürfen die Kommunikationsfreiheit, von der eine Demokratie nunmal lebt, nicht allzu drastisch beschneiden. Zum anderen fehlt es an Medienbildung. Längst bräuchte es ein eigenes Schulfach, um die Effekte einer Medienrevolution, die mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar ist, einzuhegen.
Wie könnte dieses Schulfach aussehen?
Es bräuchte drei Säulen. Erstens: die Medien- und Machtanalyse. Dann die konkrete Medienpraxis, also die Quellenprüfung, die Auseinandersetzung mit der Qualität von Argumenten und Techniken der „Abkühlung“ im Konflikt, die Kenntnis der rhetorischen Mittel im Ringen um tragfähige Kompromisse. Schließlich als dritte Säule eine Disziplin, die ich angewandte Irrtumswissenschaft nenne. Hier ginge es darum, sich mit der ungeheuren Irrtumsanfälligkeit des Menschen zu befassen, um sich der Verführung durch bloß gefällige Gerüchte und geschickte Fälschungen entgegenzustemmen. Aber ob so ein Schulfach jemals kommt? Ich bin skeptisch, zumal in einer föderalistisch zersplitterten Bildungslandschaft.
Viele beteiligen sich an den Debatten im Netz. Ist das Ausdruck eines gesteigerten politischen Interesses oder der Versuch, Orientierung zu finden, die man in der etablierten Politik vermisst?
Beides kommt vor, stärkeres politisches Interesse, aber auch die mitunter fast verzweifelte Orientierungssuche. Aber im Grundsatz erleben wir vor allem eine gigantische Öffnung des Kommunikationsraumes, geprägt von den Bedürfnissen der digitalen Werbeindustrie. Jeder kann sich zuschalten. Jeder kann mitmachen, wenn er das möchte. Im Kern ist diese Öffnung eine gute Nachricht. Aber dafür braucht es zeitgemäße Medienmündigkeit.
Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien?
Ich tue mich schwer mit einer pauschalen Antwort, denn es gab unterschiedliche Tendenzen – umfassend recherchierte Information, großartige Berichte, die Einordnung lieferten, manchmal zu viel Liveticker-Hektik und zu wenig ausgeruhte Draufsicht. Aber auch infame Attacken auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zum Beispiel durch die Bild-Zeitung. Hier hat man einzelne Modellierer und Virologen, deren Annahmen einem nicht passten, quasi zur Fahndung ausgeschrieben. Auch an anderen Entgleisungen der Redaktion konnte man sehen: Boulevardjournalismus tut sich wahnsinnig schwer mit Grauwerten, man malt lieber schwarz und weiß. Aber die Situation einer solchen Pandemie – voller Unwägbarkeiten, voller Zielkonflikte – erfordert gerade die abwägende, wissenschaftlich informierte Erörterung.
Was macht es mit der Gesellschaft, wenn so unversöhnlich kommuniziert wird?
Empirisch würde ich sagen: Das Stresslevel steigt, weil neben die Bedrohung durch das Virus die Fülle der Beziehungskonflikte tritt, was sich aktuell beobachten lässt. Es dürfte kaum einen Haushalt geben, in dem derzeit nicht massiv über irgendein Pandemiethema gestritten wird. Als ein nur schlecht verkappter Idealist füge ich hinzu: Es gilt, die Dialogfähigkeit zu trainieren, die jeweils richtige Mischung aus Empathie und Verständnis, Sachorientierung und ausreichend respektvoller Konfrontationsbereitschaft.
Lassen sich die Gräben denn noch zuschütten?
Darf ich in diesen ernsten Zeiten mal kurz einen Witz erzählen? – Leitfrage: „Wie viele Psychotherapeuten braucht man, um eine Glühbirne in die Fassung zu drehen?“ Die Antwort: „Einer reicht, aber die Glühbirne muss wollen!“ Das heißt: Versöhnung ist auch eine Frage innerer Bereitschaft. Allerdings scheint mir hier auch die politische Krisenkommunikation gefordert, das ist nicht nur eine individuelle Aufgabe. Ich stelle mir vor, dass es im Sinne des kommunikativen Brückenbaus sinnvoll wäre, das Ende der Pandemie als doppelte Zäsur zu begreifen. Einerseits sollte man öffentlich an die vielen Toten und deren Angehörige erinnern, an die Schicksale des Sterbens und Leidens erinnern, andererseits die Wiederkehr der Normalität und das Ende der Erstarrung kollektiv feiern.
Gibt es in Ihren Augen etwas, das Hoffnung macht?
Es bleibt ein gemischtes Bild, ehrlich gesagt. Das Fehlen vorausschauender Politik, die ab Sommer 2020 vor jeder weiteren Welle gewarnt war gehört ebenso dazu wie die Macht der Desinformation in der Extremsituation einer Pandemie. Was mir aber trotz allem Hoffnung macht, sind die Forschungserfolge der Wissenschaft, die uns in Hochgeschwindigkeit extrem wirksame Impfstoffe beschert haben.