Kirchheim
Die Krise in der Krise

Ausbildung Der Fachkräftemangel war schon vor der Pandemie eine Bedrohung für den Wirtschaftsstandort in der Region. Jetzt setzen Corona und Homeoffice noch eins drauf. Von Bernd Köble

Fast 16 Prozent weniger Ausbildungsverträge, quer durch alle Branchen. Es sind alarmierende Zahlen, die die IHK-Bezirkskammer Ess­lingen-Nürtingen für 2020 vermeldet. Im laufenden Jahr geht ­Chris­toph Nold von einem wei­te­ren Rückgang im zweistelligen Prozentbereich aus. Der Geschäftsführer nennt die Zahlen „dramatisch“ und „brutal.“ Auch deshalb, weil der Trend in der ­gesamten Region Stuttgart fast ­deckungsgleich ist.

Es sind ungewisse Zeiten für Unternehmen, die schon lange vor der Pandemie den Fachkräfte­mangel als ernst zu nehmendes Zukunftsrisiko ausgemacht ­haben. Die demografische Entwicklung, veränderte Erwartungen an den Beruf - Fachleute nennen es „Mismatch“, wenn Angebot und Nachfrage nicht mehr zusammenpassen - oder die Tatsache, dass viele Branchen sich im Moment völlig neu erfinden müssen. Das heißt dann Transformation und trifft nicht nur die Automobil- und Zuliefererindustrie, sondern selbst Banken, die im Ranking der begehrtesten Ausbildungsberufe noch immer ganz oben stehen.

Alles zusammengenommen ­hätte schon genug Gewicht, um bleischwer auf dem Ausbildungsmarkt zu lasten. Jetzt kommt hinzu, dass keiner weiß, ob und wie es nach Corona weitergehen wird. Und noch ein weiteres Thema befeuert die Misere ­zusätzlich: ­Homeoffice. In Zeiten, da in ­vielen Betrieben der Großteil der Belegschaft zu Hause sitzt, muss Ausbildung völlig neu organisiert werden - vielleicht sogar auf Dauer. Christoph Nold spricht von einer Herausforderung, bei der vor allem eines bemerkenswert ist: Es trifft so gut wie alle. „Es sind nicht nur die Großen“, sagt er. „Die Betriebe reduzieren ihr Ausbildungs­angebot in der Breite.“ Deshalb verzeichnen Einbrüche nicht nur Hotellerie, Gastronomie und Handel, sondern auch technische Berufe. Dabei ­treffen zwei fatale Trends aufeinander: einerseits die konjunkturbedingte Zurückhaltung in den Unternehmen, gleichzeitig nimmt das Interesse an betrieblicher Ausbildung generell ab. Ende August vergangenen Jahres meldete die IHK in der Region Stuttgart noch 322 offene Lehrstellen, die nicht besetzt werden konnten, 51 davon im Kreis Esslingen. Die meisten in kaufmännischen Berufen, aber auch in Zukunftssparten wie der Informatik. Das spiegelt sich auch in den Schülerzahlen an den beruflichen Schulen im Kreis. Sie sinken seit Jahren zwar langsam, aber konstant.

Das Problem, das alle ­Experten beschäftigt: Bewerber, die jetzt fehlen, schaden der Wirtschaft auf Dauer. Wenn Corona vorbei ist und der Laden wieder brummt, werden Fachkräfte dringend benötigt. Was also tun? Ein Weg: Die Werbetrommel rühren und deutlich machen, welche Möglichkeiten in der dualen Ausbildung stecken. Doch auch das ist zurzeit nicht so einfach, weil Ausbildungsbörsen oder berufliche Orientierung an Schulen fast ausschließlich im virtuellen Raum stattfinden. Das ist auch für eine online-affine Klientel nicht dasselbe, wie Experten wissen. „Wenn ich Dinge nicht anfassen kann, fehlt die Emotionalität, die bei der Berufswahl wichtig ist,“ sagt Chris­toph Nold. „Wir müssen die Leute ermutigen, den ersten Schritt zu tun“, meint hingegen Dieter Proß, der bei der IHK das Referat Beruf und Qualifikation leitet. Wer einen Fuß erst mal in der Firma habe und offen sei für Veränderungen, dem stünden viele Türen offen. Viele Berufsanwärter müssten sich verabschieden von einem festgezurrten Berufsziel. Proß: „Die wenigsten Karrieren verlaufen heute linear.“