Kirchheim. „Jetzt, da ich es in Buchform sehe, scheint es mir eher ein Text zu sein, der auf dem schmalen Grat zwischen einem richtigen Bühnenstück und einer laut zu lesenden Erzählung schwankt.“ So äußert sich Alessandro Baricco, Jahrgang 1958, in seinem Vorwort zu „Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten“. Baricco ist studierter Musikwissenschaftler und Philosoph und Autor erfolgreicher Romane. Sein schmaler Text „Novecento“ erscheint in immer neuen Auflagen. Dass er mit seinen Bühnenanweisungen und Regiebemerkungen auch als Theatertext noch lebendig ist, wird allein hierzulande dadurch bewiesen, dass er vor Jahren in der Kirchheimer Stadthalle vom Landestheater Dinkelsbühl aufgeführt wurde. Als Lese-Literatur ist es als „Legende“ angekündigt.
In einer Legende geschieht meist Außergewöhnliches: Auf dem Ozeandampfer „Virginian“, das Auswanderer von der Alten in die Neue Welt bringt, wird in der ersten Klasse auf einem Klavierflügel ein Baby in einem Karton für Zitronen gefunden. Ein Matrose namens Danny Boodmann kümmert sich um diesen neuen Passagier und nennt ihn „Novecento“, da er im Jahr 1900 geboren wurde. Das Kind wächst auf dem Schiff auf und beweist sehr bald, dass es erstaunlich gut Klavier spielen kann und dadurch die Leute in Begeisterung versetzt. Novecento macht nach 32 Jahren einen Versuch, an Land zu gehen, gibt ihn aber wieder auf. Sein Freund Tim Tooney, der Erzähler, mit dem er sechs Jahre gemeinsam musizierte, nimmt mit seiner Trompete 1933 Abschied von dem Schiff. Nach dem Krieg erfährt Tim, dass die „Virginian“ durch eine Ladung Dynamit auf hoher See entsorgt werden soll. Er findet das Schiff und Novecento als letzten Passagier im Maschinenraum. Novecento möchte nicht von Bord gehen, sondern auf dem Schiff sterben.
Zuständig für die „laut zu lesende Erzählung“ war in der Stadtbücherei das „Duo Phantasma“. Ingrid Stojan vom Literaturbeirat begrüßte den Schauspieler Michael Stülpnagel und den Musiker Johannes Weigle, beide in Kirchheim mittlerweile bekannt und bewährt.
In seiner Fassung des Textes verzichtet Stülpnagel auf einige Passagen wie den Wettstreit Novecentos mit einem berühmten Jazzpianisten und den Blick ins Jenseits am Schluss. Als Schlusssequenz spricht er die Begründung Novecentos, warum er das Schiff nie verlassen hat und nicht in die Welt hinausgegangen ist: In der Welt wäre er orientierungslos gewesen. Am Klavier mit seinen 88 Tasten ist er zu Hause und glücklich. Er spürt und imaginiert die ganze Welt, angeregt durch die Gäste an Bord. Die Fantasie ist wichtiger als die Realität. Man könnte Baricco als modernen Romantiker bezeichnen.
Die Botschaft des Autors bringt Stülpnagel mit perfekter Rezitationskunst herüber. Besonders eindrückliche Passagen bietet er ohne Textvorlage. Johannes Weigle unterstützt die Rezitation musikalisch mit großem Einfühlungsvermögen. Er sitzt – natürlich – am Klavier, im Halbkreis umgeben von verschiedenen Instrumenten, unter anderem einem Cello, gelegentlich als Zupfinstrument auf den Knien. Sensibel und kreativ trägt er mit Eigenkompositionen dazu bei, dass eine schlüssige Gesamtkomposition entsteht.
Mit dieser meisterhaften Darbietung von Bariccos „Zwittertext“ braucht sich die Präsentation von einer „laut zu lesenden Erzählung“ in keinster Weise vor einer mühsamen Theateraufführung in seiner Wirkung zu verstecken. Das Publikum war sehr beeindruckt. Ulrich Staehle