Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg war die Infrastruktur in Deutschland bis Ende 1918 intakt geblieben. Die Versorgung mit Lebensmitteln war zwar weiterhin schwierig, aber Häuser und Straßen wiesen keinerlei Kriegszerstörungen auf. Wie auch? Im Westen hatte der Krieg fast ausschließlich in Frankreich und Belgien getobt. Dort hatte er auch zerstörte Städte und Mondlandschaften hinterlassen. Aber in einer Stadt wie Kirchheim? Man trauerte um Angehörige, die im Krieg gefallen waren. Verluste an Besitz und Eigentum jedoch - die gab es höchstens, wenn jemand Kriegsanleihen gezeichnet hatte, die nach der Niederlage nichts mehr wert waren.
Trotzdem lag nach viereinhalb Jahren Weltkrieg wohl manches im Argen. Die Wirtschaft war ja ganz auf den militärischen Bedarf ausgerichtet gewesen. Nun plötzlich änderte sich das: Die Demobilisierung des Heers war das eine, die Umstellung auf Friedenswirtschaft das andere. Die Soldaten sollten wieder Arbeiter werden.
Wo aber die ganze Arbeit hernehmen? In der Landwirtschaft gab es natürlich Arbeit. Doch auch hier musste die Obrigkeit regulierend eingreifen. Der „Stadtvorstand“ beschäftigte sich zum Beispiel mit der Milchversorgung, wie der Teckbote am Montag, 25. November 1918, schreibt: Demnach wurden für eine Neuregelung „Uebergangspreise für Milch von hiesigen Kuhhaltern und für Händler-Milch bestimmt, auch ein Milchausschuß bestellt“.
Ansonsten aber hat der Kirchheimer Stadtvorstand am Freitag zuvor ein umfangreiches Konjunkturprogramm beschlossen - um „anläßlich der Demobilmachung in weitgehendem Maße für Arbeitsgelegenheit durch Notstandsarbeiten zu sorgen“. Dabei geht es um „die Herrichtung von Straßen und Wegen“, „die Einebnung des früheren Gänsegartens“ oder um „die Kiesgewinnung in der Dettinger Au und aus der Lindach“. Weitere Projekte sind „die Kanalisation der Altstadt“, „die Anlage verschiedener Straßen“ sowie „die Instandsetzung städtischer Gebäude“ und „der Bau einiger Wohnhäuser“. Die vier letztgenannten Punkte gehören auch hundert Jahre später zu den Dauerthemen der Stadt.
Abgesehen von diesen ganz praktischen Aufgaben zur Linderung der Not, geht auch die politische Willensbildung weiter: Am selben Tag berichtet der Teckbote ausführlich über die große Versammlung der Fortschrittlichen Volkspartei, die zu den historischen Vorläufern der FDP zu zählen ist. Im „geräumigen Tyrolersaal“ war kein Platz unbesetzt geblieben, auch nicht auf der Bühne und auf der Galerie. „Mittelschullehrer Mayer“, der bis heute als Heimatforscher in Kirchheim bekannt ist, fasst die aktuelle Lage zusammen: „Der Krieg ist zu Ende, die Pforten des Friedens öffnen sich. Dazwischen liegen Tage gewaltiger Umwälzungen. Kaiser- und Königreiche, Herzogtümer und Fürstentümer sind in Trümmer geschlagen. Auf demokratischem Boden soll die deutsche Zukunft wieder aufgebaut werden.“
Aber auch er betont, dass die Soldaten keine Schuld am verlorenen Krieg trifft. Er macht „die ohnmächtige Politik“ verantwortlich, „die glaubte, die ganze Welt niederringen zu können“. Im Klartext heißt das, dass Carl Mayer hier mit der kaiserlichen Regierung abrechnet. Es handelt sich nicht um später aufkommende Vorwürfe gegen die „Erfüllungspolitik“ der Weimarer Republik.
Die Einstellung Mayers und der Fortschrittlichen Volkspartei ist über jeden Zweifel erhaben. Das bringt auch der Hauptredner zum Ausdruck - „Syndikus Bayer“ aus Stuttgart. Er rechnet im Tyroler mit dem „unpolitisierten Bürger“ der Kaiserzeit ab, der „in erster Linie privatwirtschaftlich auf Verdienen eingestellt“ gewesen sei. Er fordert ein radikales und soziales neues demokratisches „Bürger-Programm“, eine „großdeutsche Republik“ (also die Einbeziehung Österreichs), „rückhaltlose Anerkennung des Frauenwahlrechts“ und soziale Gerechtigkeit.
Politische Aufklärung der Frauen
Obwohl seine Forderungen - so kurz nach der erzwungenen Abdankung des Kaisers - sehr radikal klingen, distanziert sich Bayer deutlich von einer „rein proletarischen Republik“ oder gar von einer drohenden „Diktatur der Spartakus-Gruppe“. In seinem Schlusswort legt er „den Männern ganz besonders ans Herz, an der politischen Aufklärung ihrer Frauen zu arbeiten“. Letzteres mag heute unglaublich reaktionär wirken. Es war damals aber mit Sicherheit radikal fortschrittlich gedacht.
Um die politische Aufklärung waren in der Woche bis Ende November 1918 alle möglichen Parteien bemüht. Die Demobilisierung und Einquartierung spielt im Teckboten von damals eine ebenso wichtige Rolle wie die Stellungnahmen der Gewerkschaften - denn auch für sie gab es ein sehr modern anmutendes Thema zu besprechen: die Einführung des Achtstundentags. Dabei ging es aber weniger um Wohltaten für die arbeitende Bevölkerung. Vielmehr war auch die Verkürzung der Arbeitszeit eine Art Konjunktur- und Beschäftigungsprogramm.