Kirchheim
Die Ruhe vor dem möglichen Sturm

Ukraine Bis heute sind im Esslinger Landratsamt noch keine Geflüchteten zur Unterbringung gemeldet. In Landkreis und Kommunen sind wieder Krisenstäbe in Alarmbereitschaft. 
Von Bernd Köble

Betten werden durch Korridore geschleppt, Stellwände aufgebaut, die Sichtschutz bieten sollen, Räume eingerichtet zum Impfen und für medizinische Versorgung – was sich in der Zeppelinstraße 112 in Esslingen abspielt, wirkt vertraut. Sieben Jahre ist es her, dass sich der Landkreis in Sporthallen und leeren Fabrikgebäuden für den Zustrom von Flüchtlingen gewappnet hat. Jetzt ist Krieg in der Ukraine, und in Kommunen wird erneut fieberhaft nach Notquartieren gesucht.

Das mehrgeschossige Gebäude in der Zeppelinstraße steht seit vergangener Woche als Aufnahmezentrum des Landkreises mit 400 Plätzen bereit, 500 weitere warten über das Kreisgebiet verteilt noch auf den Segen des Regierungspräsidiums. In der Zeppelinstraße, wo zu Beginn der Pandemie eines der beiden großen Impfzentren untergebracht war, herrscht im Moment noch gähnende
 

„Es ist gut, dass wir in unseren Strukturen nicht mehr üben müssen.
Christian Greber
Der Landratsamts-Sprecher zu den Vorbereitungen auf eine neue Flüchtlingswelle.

 

Leere. Christian Greber, zuständiger Dezernatsleiter im Landratsamt, spricht von einem „Glücksfall“, denn Notunterkünfte im Kreis sind Mangelware. Nicht erst heute, schon lange bevor der Krieg in der Ukraine begann. Zwar liegen dem Landratsamt bis heute noch keine Zuweisungen aus einer der Erstaufnahmestellen des Landes vor. Doch dort wächst der Zustrom rapide. Spätestens in einer Woche, so rechnen offizielle Stellen, wird mit der Verteilung auf die Landkreise begonnen werden müssen. Anders als noch vor Jahren ist die Lage diesmal unübersichtlich. „Was uns tatsächlich erwartet, lässt sich im Moment nicht sagen“, meint Christian Greber. 2015 waren die Erstaufnahmestellen fast ausschließlich für die Verteilung zuständig. Jetzt kommen viele Familien in Pkw oder mit kurzerhand organisierten Hilfskonvois ins Land.

Der Krieg im Osten hat auf diesem Weg auch Kirchheim erreicht. Familien mit 17 Personen, darunter viele kleine Kinder, standen vergangene Woche plötzlich vor der Tür des Kirchheimer Polizeireviers. Nach einer Nacht im Ateck-Hotel und im „Fuchsen“, die sich spontan zur Aufnahme bereiterklärt hatten, sind inzwischen alle privat untergekommen. Kirchheims Oberbürgermeister Pascal Bader schätzt die Zahl der Menschen, die bisher in Kirchheim Zuflucht gefunden haben, auf etwa 60. Doch auch er weiß: Das ist erst der Anfang. „Angebote für privaten Wohnraum zu sammeln, ist im Moment das Wichtigste“, sagt er. Rund 60 solcher spontanen Offerten, vom Zimmer bis zu mehreren leerstehenden Häusern, sind im Rathaus bisher eingegangen. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist groß. Laut einer aktuellen Umfrage von Infratest Dimap befürworten 94 Prozent der Baden-Württemberger die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine. „Wir hoffen, dass diese Unterstützung auch auf Dauer trägt“, meint Kirchheims OB, der weiß, wie schnell eine solche Stimmung kippen kann.

Wie der Landkreis kann auch die Stadt auf eine bewährte Allianz setzen. Gestern Abend tagte im Rathaus bis zu später Stunde eine Runde aus Verwaltung, Hilfsdiensten wie DRK und Malteser, Arbeitskreis Asyl, Diakonie und Vertretern kommunaler Jugendverbände, um die drängendsten Fragen zu klären und erste Aufgaben zu verteilen. Welche Möglichkeiten gibt es für Kinderbetreuung, für den Zugang zu Schulen, wie kann die Registrierung funktionieren, die seither in den Landes-Erstaufnahmestellen stattfand und nun größtenteils von den Ausländerbehörden in den Rathäusern und Landratsämtern übernommen werden muss? Das System, das bisher im Einsatz war, ist mit der massenweisen Erfassung erkennungsdienstlicher Daten überfordert. „Wir sind gerade dabei, das zu ändern“, sagt Pascal Bader, der inzwischen angeordnet hat, die offenen Besuchszeiten der Verwaltung einzuschränken, um seine Mitarbeiter zu entlasten. 

Wie in Kirchheim ist man auch im Landratsamt dankbar, das Rad nicht in allen Bereichen neu erfinden zu müssen. „Es ist gut, dass wir in unseren Strukturen nicht mehr üben müssen“, sagt Christian Greber. „Eine Blaupause für solche Lagen wird es aber nie geben.“


Lichteneck wird kein neuer Zufluchtsort

Auf halber Höhe zwischen Hepsisau und Ochsenwang war das Schullandheim Lichteneck bis 2017 noch Zufluchtsort für bis zu 30 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, überwiegend aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Inzwischen wurde die Einrichtung, die seit Mitte der Fünfzigerjahre im Besitz des Landkreises ist, für 200 000 Euro saniert und umgebaut. Seitdem steht das Haus leer, auch deshalb, weil das Personal für den Regelbetrieb fehlte.
In Zusammenarbeit mit dem Trägerverein Michaelshof-Ziegelhütte, einer Einrichtung zur Erziehungshilfe, erarbeitet der Kreis ein neues Konzept, das mit einem Kindergarten, dem Schullandheim und Angeboten der Jugendhilfe auf drei Säulen baut. „Die dafür nötigen Baumaßnahmen laufen noch bis Ende des Jahres“, sagt Landratsamts-Sprecher Christian Greber. Als Unterkunft im großen Stil komme Lichteneck deshalb nicht in Betracht. „Für einige wenige Plätze, die denkbar wären, ist der Ort zu abgelegen“, meint er.  bk