Auch die hohen Raumtemperaturen im voll besetzten Gemeindesaal St. Ulrich haben die Gäste nicht davon abgehalten, mehr als anderthalb Stunden mit dem Journalisten und Friedensaktivisten Andreas Zumach zu diskutieren – nachdem der schon 45 Minuten lang einen komplexen Vortrag zum Ukraine-Krieg gehalten hat. Eingeladen hatte die katholische Friedensbewegung Pax Christi Kirchheim sowie die DFG-VK Neckar-Fils und die Friedensinitiative Kirchheim. „Was können wir hier vor Ort machen?“, wollte einer aus dem Publikum wissen. Es war eine fast verzweifelte Frage, nachdem der freie Journalist und ehemalige UN-Korrespondent viel über die komplexen Zusammenhänge der Ukraine-Krise berichtet hat. Es fielen Sätze, die momentan in der öffentlichen Diskussion eher selten vorkommen, da sie Konfliktpotenzial bieten.
Zunächst stellt er klar: „Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine ist völkerrechtswidrig, verbrecherisch und durch nichts zu rechtfertigen. Und auch der Verweis auf Völkerrechtsverstöße und Kriegsverbrechen westlicher Staaten oder auf ihre falsche Politik gegenüber Russland in den letzten drei Jahrzehnten seit dem gebrochenen Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, sollte nicht zur Relativierung, Verharmlosung oder Rechtfertigung dieses Krieges dienen.“
„Ich sehe derzeit nicht, wie der Krieg mit Verhandlungen zu Ende gehen sollte“, sagt er. Aktuell gebe es auch keine Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien. Die „beste aller schlechten Optionen“ sei: „Es könnte sein, dass die Russen sich vorarbeiten, den Donbass und den südlichen Küstengürtel entlang des Asowschen Meeres bis Odessa oder gar bis zur Grenze nach Moldawien - und damit jene Regionen der Ukraine, in denen die größten russischstämmigen Minderheiten leben, und die nach Putins geschichtsrevisionistischer Propaganda zur „Russky Mir“ gehören, zur „Russischen Welt", einzunehmen und bis Ende Oktober ein Ende des heißen Kriegs mit einer Konsolidierung der Gebiete stattfindet“, sagt er. Dies sei aber nur eine Option, möglich sei auch eine vollständige Besetzung der Ukraine. Eine vollständige Kontrolle werde Russland jedoch nie über das Land gewinnen, ist er überzeugt.
Wichtig ist Zumach auch die Betrachtung des „danach“ eines wie auch immer gearteten Kriegsendes, was er die zweite Phase nennt. Die derzeitige Verstärkung der Nato-Truppen in Ost-Europa sieht er als Bruch der Russland-Nato-Akte von 1997. „Russland hat mit dem Ukraine-Krieg gegen die Russland-NATO-Akte verstoßen. Mit der jetzt beim NATO-Gipfel in Madrid angekündigten dauerhaften Stationierung von Truppen aus den USA, Deutschland und anderen westlichen NATO-Staaten in osteuropäischen Mitgliedsländern hält sich auch die NATO nicht mehr an diese Akte“, sagt Zumach.
Heftige Kritik übt er an der „Zeitenwende“, von der auch Bundeskanzler Olaf Scholz spricht. „Das ist ein ideologischer Kampfbegriff“, betont er. Zwar sei es eine Zäsur, dass ein Krieg auf die Abschaffung eines Staats ziele, aber einen Angriff mit dem Ziel einer Abspaltung habe es auch 1999 durch die Nato im Kosovokrieg gegeben. „Damals hieß das humanitäre Intervention“, sagt Zumach. Auch die Drohung mit Atomwaffen sei nicht neu, Bush Senior habe sie im Irak-Krieg genutzt. Auch verweist er auf das gebrochene Versprechen des Westens gegenüber Russland im Jahr 1990, dass sich die Nato nicht nach Osten erweitern würde. Aus seinem Ziel macht er keinen Hehl: Er will den Dialog mit Russland aufrechterhalten. Wenn Expertinnen wie Claudia Major vom einflussreichen Thinktank Wissenschaft und Politik nur noch auf Konfrontation schalten wollen, wie sie in einem Zeit-Artikel geschrieben hat, fragt sich Zumach: „Was ist das für eine Analyse? Man tut so, als würde sich dieses Russland nicht mehr verändern.“
Denn der Experte glaubt, dass der Angriffskrieg der Anfang vom Ende für die Macht Putins ist, wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung und der toten Soldaten, die momentan noch verschwiegen werden, aber langfristig ins Bewusstsein der Menschen kommen werden. „Das wird zu einer Eruption in der Bevölkerung führen“, ist er sich sicher. Dass das Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ aus der Mode gekommen ist, bestreitet Andreas Zumach vehement: „Die Abschreckung mit Atomwaffen funktioniert nicht. Dieser Krieg kann doch nur geführt werden, eben weil Putin mit Atomwaffen droht.“ Der Pazifismus ist weder out noch gescheitert: „Er kann gar nicht gescheitert sein, denn die Außenpolitik war nie pazifistisch.“
Sicherheit nur mit Russland
Damit kommt er auf die Frage des besorgten Zuhörers zu sprechen: Was kann man vor Ort tun, etwa in Kirchheim? Man müsse auf allen zivilen Ebenen die Beziehungen aufrechterhalten, auf privater und kultureller Ebene. „Da kann jeder etwas tun.“ Man brauche viel mehr zivile Instrumente, Fähigkeiten und Ressourcen zur Bearbeitung von Konflikten: Zur Früherkennung, zur Prävention einer Eskalation des Konflikts auf die Gewaltebene und zur Vermittlung von politischen Lösungen mit Diplomatie, finanziellen und wirtschaftlichen Anreizen und notfalls auch Sanktionen, zur Überwachung getroffener Vereinbarungen und zur Nachsorge für die Opfer von Konflikten. Das ist die Forderung der Friedensbewegung und der Friedens-und Konfliktforschung seit Jahrzehnten. Und das ist gemeint mit ,Frieden schaffen ohne Waffen.’“
Eine Sicherheitsordnung in Europa könne es nur mit Russland geben. „Das Wort von Egon Bahr gilt immer noch“. Denn anders als die USA habe man keine Wahl. Und wenn die Ukraine in die EU komme, dürfe die EU bei künftigen Verhandlungen mit Kiew nicht denselben Fehler machen wie in den ersten diesbezüglichen Verhandlungen in den Jahren 2010 bis Oktober 2013. Damals stellte die EU-Kommission unter ihrem Vorsitzenden Barroso den damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowytsch vor die Alternative: Schwarz oder Weiß. Entweder Annäherung der Ukraine an die EU über Zwischenschritte wie das damals verhandelte Assoziierungsabkommen und eine Zollunion bis hin zur vollständigen Mitgliedschaft, oder aber Verbleib der Ukraine in einer Zollunion mit Rußland, Belarus und Kasachstan. „Beides geht nicht. Es war ein großer Fehler, die Ukraine, die historisch weit über 50 Prozent ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen mit Russland hatte, vor diese Alternative zu stellen“, sagt Zumach. Und dann wieder so ein Satz, der momentan selten in der öffentlichen Diskussion zu hören ist. „Es gibt legitime Wirtschaftsinteressen Russlands.“ Die müssten bei Verhandlungen zwischen EU Und Ukraine berücksichtigt werden. Er geht noch weiter: Warum nicht eine Partnerschaft mit Russland in puncto regenerativer Energien anstreben? Für die Zuhörer bleibt die Hoffnung: Vielleicht braucht es solche Gedanken konträr zu vorherrschenden Meinung, um zu einer Lösung des Konflikts zu kommen.
Rücktritt aus Friedenspreis-Jury
Andreas Zumach, Jahrgang 1954, Journalist und Experte für internationale Beziehungen, ist in der Friedensbewegung aktiv. Bis vor einer Woche war er auch Vorsitzender der unabhängigen Jury des Göttinger Friedenspreises. Als die Stiftungsleitung die Ehrung der diesjährigen Preisträger, ein deutsch-russisches Musikprojekt von Schülern, wegen angeblicher Sicherheitsbedenken absagte, ist die Jury mit Andreas Zumach komplett zurückgetreten.
Den Kurs der SPD und ihres Generalsekretärs Lars Klingbeil („Militärische Gewalt ist legitimes Mittel der Politik“) kritisiert Zumach scharf: „Willy Brandt würde sich im Grab umdrehen.“
Als größten Erfolg der Friedensbewegung bewertet der Journalist den Atomwaffenverbotsvertrag. Für die Diskussion wünscht er sich einen innenpolitischen Streit um Atomwaffen wie in den 80er-Jahren. Wenn die deutsche Bundesregierung dem Abkommen nicht beitreten wolle, sollten es die Städte und Kommunen tun. zap