Kirchheim
Diese Hitliste sollte man möglichst schnell wieder verlassen

Schuldnerberatung In die „Big Six“ der häufigsten Überschuldungsarten können viele geraten, doch es gibt Hilfe im Kreis. Die Schuldnerberaterinnen und -berater wollen dabei auch gesellschaftlich etwas bewegen. Von Thomas Zapp

Als Neukunde Ware auf Rechnung bezahlen, das geht heutzutage im Internet problemlos. „Früher war das bei Erstbestellungen nicht möglich“, sagt Michael Ischir findet,  Berater der Schuldner- und Insolvenzberatung der Diakonischen Bezirksstelle in Kirchheim. Die Folge sei, dass Leute etwas auf Pump kaufen, was sie sich eigentlich nicht leisten können. „Es wird einem leicht gemacht“, sieht Michael Ischir ein Problem darin, dass die Angebote für einen Kredit viel niederschwelliger als früher sind.
 

Wir wollen zeigen: Auch ohne Konsum kann eine gesellschaftliche Teilhabe stattfinden.
Andrea Wohlfahrt
Leiterin des Fachbereichs Schuldnerberatung im Kreisdiakonieverband

 

Die Probleme sind nicht neu, aber die Verlockungen sind zahlreicher geworden. „Sie haben heute ein Mehrfaches an Ausgaben für Entertainment“, sagt Ursula Krömer, die mit Michael Ischir das Beratungsteam in Kirchheim bildet. Sie haben für das Telefon im Monat 27 Mark ausgegeben, das war’s.“ Das war dann auch das Entertainment für die ganze Familie, könnte man hinzufügen – eigene Telefone für die Kinder und andere Familienmitglieder waren damals undenkbar. „Heute gehört das Handy zur gesellschaftlichen Teilhabe“, sagt Andrea Wohlfahrt, Leiterin des Fachbereichs Schuldnerberatung im Kreisdiakonieverband. 

Effekte kommen zeitversetzt

Die Expertinnen und Experten sprechen von den „Big Six“, den großen sechs Ursachen für Schulden: Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Trennung, Selbständigkeit, Haushaltsgründung, Sucht und Krankheit und Konsumverhalten. Was sie immer wieder feststellen: Diese Ursachen können alle Einkommensschichten betreffen: Der Unternehmer, der sich mit einer Investition übernommen hat, Eltern, die nach der Geburt eines Kindes einen Haushalt gründen – und dann Paare, die sich trennen und statt einem gemeinsamen nun zwei Haushalte finanzieren müssen bei steigenden Energiekosten. 

Ursula Krömer berichtet von einem Ehemann, der gut verdient, aber wo der Unterhalt zu hoch angesetzt war. Auch Spielsucht kann ein gutes Einkommen ruinieren. In solchen Fällen arbeiten die Schuldnerberater mit anderen Stellen zusammen, etwa der Suchtberatung. Auch psychische Erkrankungen können eine Rolle spielen. Michael Ischir berichtet von einem Klienten, der manisch depressiv war, während der Beratung immer aufs Handy schaute. Es stellte sich heraus, dass er vier Handyverträge hatte. 

Auch wenn die Anmeldezahlen tendenziell steigen, sei das Beratungsaufkommen durch Inflation, Corona- und Energiekrise noch nicht durchgeschlagen, betonen alle drei. Doch erfahrungsgemäß komme so etwas immer zeitversetzt. Was Michael Ischir bereits feststellt: „Die Problemlagen werden komplexer.“ Mehr gesetzliche Regulierung für Online-Handel wünscht er sich übrigens nicht. „Mehr Vorgaben würden nur dazu führen, dass es auf den Portalen noch mehr Text gibt, den man nicht liest“, sagt er. Die meisten seiner Klienten seien informiert gewesen – zumindest theoretisch. Was also ist zu tun: Keine Käufe auf Rechnung ohne Schufa-Prüfung erlauben? Auch davon halten die Beraterinnen und Berater nichts: „Das wäre ein Eingriff in die Wirtschaft.“ Außerdem fänden das auch diejenigen nicht gut, die man eigentlich schützen will. „,Uns wird auch alles genommen’ – denken dann viele“, sagt Ursula Krömer

„Unsere Aufgabe ist es, darauf aufmerksam zu machen“, sagt Andrea Wohlfahrt. Deshalb setze man mit dem Programm „Benefit“ schon bei Jugendlichen an, durch Präventionsarbeit in Jugendhäusern oder Vorträgen an Schulen. Sie sieht einen gesellschaftlichen Auftrag ihrer Arbeit: „Der Konsum sollte nicht so einen großen Platz einnehmen. Der Mensch an sich ist wertvoll, das müssen wir wieder vermitteln.“

 

Hilfsangebote im Kreis

Im Jahr 2022 wurden in der Beratungsstelle Kirchheim 126 Personen beraten. Im Landkreis gibt es zwölf Schuldnerberaterinnen und Berater an fünf Standorten: Kirchheim, Nürtingen, Bernhausen und zwei in Esslingen. Im Jahr 2022 wurden landkreisweit 1529 Personen bzw. Haushalte beraten, davon 904 Einmalberatungen, 625 längerfristig.

Gut 6,92 Millionen Personen (3,46 Millionen Haushalte) in Deutschland sind überschuldet. Darauf weist der Hamburger Verein iff hin. Die „Big Six“ erweisen sich demnach robust gegenüber der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. zap