Kirchheim. Als am Karfreitag um 15 Uhr das Geläut der Glocken zur Todesstunde Jesu verstummt war, erschallte von der Empore der Friedhofskapelle herab der Choral „Stehet auf und lasset uns mit Jesu gehen“. Damit eröffnete der Chor der Martinskirche klangvoll den zweiten Teil des Oratoriums „Die Passion“ op. 90 von Heinrich von Herzogenberg.
Wegen der Renovierungsarbeiten in der Martinskirche war ein Umzug in die Kapelle auf dem Alten Friedhof in Kirchheim notwendig geworden. Dem eindrucksvollen musikalischen Erlebnis tat dies keinen Abbruch – im Gegenteil: Durch die Enge des Raums erlebten die Zuhörerinnen und Zuhörer die Musik ganz unmittelbar, waren quasi mitten im Geschehen. Dazu trugen auch die von Herzogenberg eingeschobenen Gemeindechoräle bei, die das Auditorium aktiv in die musikalischen Abläufe einbanden.
Obwohl Herzogenberg ein glühender Verehrer von Johann Sebastian Bach war, wollte er mit seiner „Passion“ einen Gegenentwurf zu dessen Gipfelwerken vorösterlicher Musik, der Johannes- und Matthäuspassion, setzen. Dennoch erwies er dem Großmeister der Barockmusik seine Reverenz: Wie Bach in seinen Passionen, verarbeitet auch Herzogenberg Paul Gerhardts Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“. Als Leitmotiv ziehen sich Fragmente der Liedmelodie durch die „Passion“ und legen so eine thematische Klammer um die verschiedenen Stränge der Partitur.
In der Tonsprache hebt sich Herzogenbergs „Passion“ jedoch deutlich von den barocken Vorbildern ab. Hier herrscht nicht formale Strenge, sondern spätromantische Üppigkeit. Die schwelgerische Musik schreckt auch nicht vor kühnen harmonischen Wendungen und gewagten Akkorddurchgängen zurück. Und gelegentlich wird die Dramatik des von Friedrich von Spitta nach biblischen Vorlagen gestalteten Textes durch expressive Ausbrüche und sich stark reibende Vorhalte unterstrichen.
Wesentlicher Träger des Geschehens waren die Rezitative, denen die Sopranistin Christine Euchenhofer ihren Stempel aufdrückte. Wie sie ihre Stimme in klarer Diktion führte, den Text mit makelloser Deklamation vortrug, und mit welcher Leichtigkeit sie sich in die vokalen Höhen hinaufschwang, nötigte Respekt ab. Immer wieder schaltete sich Burkhard Seizer in den Handlungsablauf ein: Sein markiger Bariton gab den Aussagen von Jesus und Pilatus Gewicht. Das Alt-Arioso „Christus hat uns ein Vorbild gelassen“ war bei Cecilia Tempesta in guten Händen. Strahlkräftig und mit stimmlicher Flexibilität phrasierte sie die weichen Melodien spannungsvoll.
Chor überzeugt durch Fexibilität
Ein weiterer Pluspunkt war der Chor der Martinskirche. Von Bezirkskantor Ralf Sach bestens vorbereitet, überzeugten die Choristen durch Geschlossenheit und Flexibilität beim Durchschreiten einer breiten dynamischen Skala: von zartem vokalem Einsatz über biegsame Choräle bis hin zu den dramatischen Einwürfen des jüdischen Volkes, die mit unerbittlicher Schärfe von der Empore herabschallten.
Treffend unterstützt wurde der Chor von Agathe Steiff und Anja Göser (Violinen), Silke Kromer (Viola), Johann Riepe (Violoncello) und Johannes Henning am Kontrabass. Einen Mammutpart hatte Ralf Sach zu bewältigen. Er hielt nicht nur den Chor auf sicherer Spur – mit profundem Orgelspiel setzte er zudem bei der instrumentalen Unterlegung der „Passion“ wesentliche Impulse zwischen romantischer Schwelgerei und klanglicher Ektase. Auch der optimistische Schlusspunkt oblag Bezirkskantor Sach: Sein mit hellen Klängen gefärbtes Orgelnachspiel wies voraus auf die frohe Botschaft der österlichen Auferstehung. Rainer Kellmayer