Kirchheim
Eine fragwürdige Inselidylle

Literatur Die Erfolgsautorin Dörte Hansen liest in der Kirchheimer Stadthalle aus ihrem neuen Roman „Zur See“ vor einem begeisterten Publikum. Von Ulrich Staehle

Wieder staunt man: Kaum ist ein Buch erschienen, wird es in Kirchheim vorgestellt. Diesmal von einer ganz Großen der zeitgenössischen Schriftstellerei, der in Nordfriesland aufgewachsenen Dörte Hansen. Sie las aus ihrem gerade erst im September erschienenen Roman.

Der Buchhandlung Zimmermann gelang es, diesen dicken Fisch an Land zu ziehen, weil Dörte Hansen schon mal bei Zimmermann war, in Nürtingen, wo sie ihren zweiten Roman „Mittagsstunde“ vorgestellt hat. Damals war die Autorin noch skeptisch, ob sie zur Schriftstellerin berufen ist, doch Gastgeberin Sibylle Mockler versicherte jetzt bei der Begrüßung, dass sich Leseprofis schon damals sicher waren, „ein besonderes Buch“ vor sich zu haben. Beide Romane, auch „Altes Land“, haben es dann bewiesen: Sie waren ganz oben auf den Bestsellerlisten und wurden verfilmt. Mittlerweile ist die Autorin eine feste Größe in der Literaturszene und füllt sogar die Stadthalle.

„Zur See“ bleibt bei dem Thema der beiden Vorgängerromane: Hansen beschreibt die Sehnsucht zivilisationsgeschädigter Menschen des Festlands, die auf einer vermeintlichen Idylle Erholung suchen, in diesem Fall auf einer namenlosen nordfriesischen Insel. Die Autorin beschreibt die Inselgesellschaft anhand einer Familie, deren Vorfahren schon seit über 300 Jahren dort leben. Sie stellt in fünf Leseabschnitten die Mitglieder der jetzigen Familie vor.

Mittelpunkt der Familie ist Hanne Sander, Mutter dreier Kinder. Ihr Mann Jens bekam als Seemann von ihnen fast nichts mit. Als er endlich zu Hause bleibt, wird ihm der Betrieb zu viel, er zieht aus und etabliert sich notdürftig auf einer Vogelwarte. Nach 20 Jahren zieht er wieder bei Hanne ein. Doch die Distanz bleibt. Sohn Ryckmer hat sich vom Schiffskapitän zum Bootsführer bei Seebestattungen „herabgesoffen“. Tochter Eske, tatooübersät, ist eine alleinstehende Altenpflegerin und gegen die Touristen. Das „Wunschkind“ Henrik, das die Ehe retten sollte, ist mit 30 Jahren immer noch Kind geblieben, er bekommt jedes Jahr zum Geburtstag einen selbstgestrickten Pullover und einen Kuchen von seiner Mutter. Sein Leben besteht aus Strandgängen mit seinem Hund. Er sammelt dabei Strandgut und macht daraus „namenlose“ Installationen, die überraschend zu Kunstwerken erklärt werden und sogar eine Sonderausstellung bekommen.

„Dressierte Inseltiere“

Was ist nur aus einer Familie geworden, deren Vorfahren nach Grönland segelten, um Wale zu jagen? Die jetzigen Inselbewohner können nicht einmal mit einem gestrandeten Wal etwas anfangen und müssen Hilfe vom Festland holen. Mutter Hanne hat aus ihrem repräsentativen Kapitänshaus eine Ferienpension gemacht. Den Sommergästen wird eine Idylle vorgespielt. Die Mutter legt sich eine künstliche „Sommersprache“ zu und die Kinder müssen, wie Eske später beklagt, wie „dressierte Inseltiere“ mitmachen. Überhaupt: Der Tourismus und das kapitalkräftige Festland haben die Population der Insel völlig verändert. Die alte Welt ist verschwunden und mit ihr die friesische Sprache. Das Verschwinden vergangener Welten ist das Grundthema der Autorin. Nicht einmal der Pfarrer, der neben den Familienmitgliedern von der Autorin größere Beachtung bekommt, ist vom „Verschwinden“ ausgenommen. Er hat seinen Job voller Idealismus angetreten, wird immer illusionsloser und schließlich „verschwindet“ ihm sein Glaube.

Das alles scheint höchst deprimierend. Warum schätzt aber das Publikum trotzdem die Autorin so offensichtlich, spendet nach jedem Leseabschnitt Sonderapplaus und steht nach der Lesung in einer langen Schlange, um das Buch zu kaufen und signieren zu lassen? Man kann spekulieren: Dörte Hansen vermittelt in ihrem Auftritt und ihren Texten den Eindruck von Authentizität und Wahrhaftigkeit. Spannung erzielt sie nicht durch eine knallige Handlung, sondern durch ihre Erzählweise. Ihre Sprache ist lakonisch und präzise. Sie erzählt nicht allgemein von Bestattungen auf See, sondern wie Sohn Ryckmer sie handhabt. Sie berichtet nicht allgemein vom Ertrinken im Meer und dem schwierigen Finden der Leichen, sondern bei ihr ertrinkt der Sohn Henrik . . . So sind die Leserin und der Leser informiert und engagiert dabei. Dass das Leben der Menschen auf der Insel ganz von der sie umgebenden Natur geprägt ist, wird in häufigen Personifikationen vermittelt wie: „Die See ist schwer gereizt an diesem Winternachmittag“. Durch diese erzählerischen Kunstgriffe schafft die Autorin Nähe zur Leserschaft und fesselt sie – man darf gespannt sein, wann man die Verfilmung von „Zur See“ zu sehen bekommt.