Kirchheim
Eine Kirchheimerin wird 100: Ein Jahrhundert voller Leben

Jubiläum Maria Franzke aus Kirchheim feiert morgen ihren 100. Geburtstag. Viele Auf und Abs formten die gebürtige Österreicherin zu einer starken Frau. Von Sabine Ackermann

Geistig rege und fit, aber körperlich geschwächt nach verschiedenen Operationen: Seit acht Jahren lebt die Seniorin im Pflegeheim St. Hedwig in Kirchheim.  Foto: Sabine Ackermann

Ich könnte ein Buch schreiben“, lautet Maria Franzkes „leichtsinnige Aussage“, die sie 2018 wahrhaftig in die Tat umsetzte. Ein Geschichtsbuch über 94 Jahre Leben, über ihre Herkunft, Kindheit, Jugend, Lehre, den Einzug zur Luftwaffe, Krieg, über Liebe und Familie, ihre Arbeitsstelle und natürlich über Glück und Leid. „Ich gehöre der Generation an, in der ein noch nie dagewesenes ­Tempo des technischen Fortschritts stattgefunden hat“, bringt es die bemerkenswerte Seniorin auf den Punkt – morgen wird sie 100 Jahre alt.

Geboren am 29. März 1924 als drittes Kind von Georg und Martina Weichselbaum im nieder­österreichischen Patzmansdorf, kamen später noch vier Geschwis­ter dazu. Kühe melken, Kartoffeln lesen, kochen und Brot backen – aufgewachsen auf einem Bauernhof, mussten alle Kinder mithelfen. Früh ihren Vater verloren, stand ihre Mutter mit sieben Kindern alleine da, kurz darauf starben Bruder und Onkel. „Mit 13, 14 Jahren wurde ich eng mit dem Tod konfrontiert“, weiß sie zu berichten. Maria lernte mit der Sense zu mähen, das Dreschen und Federnschleißen (Daunen vom Kiel zu trennen), Garben zu binden, Flachs zu spinnen – und nicht zuletzt das Tanzen. „Trotzdem wurde aus mir eine vielseitige Schülerin mit guten Noten“, erinnert sich die Jubilarin auch daran, dass man Anfang März 1938 anstatt „Grüß Gott“ jetzt „Heil Hitler“ sagen musste.

 

Mit 13, 14 Jahren wurde ich eng mit dem Tod konfrontiert.
Maria Franzke über die Schrecken der Kriegsjahre

 

Ernannt als „Jungmädchenführerin für mehrere Dörfer“, absolvierte Maria Weichselbaum 1939 eine Schneiderlehre, die sie drei Jahre später erfolgreich als Gesellin abschloss. Statt zu nähen, kam sie im April 1943 als Sanitätshelferin der Luftwaffe nach Baden bei Wien zur Ausbildung, wurde danach zum Fliegerhorst nach Delitzsch versetzt. Im Herbst 1944, beim Äpfelpflücken, „kam ein Unteroffizier daher und sprach mich auf dem Baum Sitzende an, und das mit Du“, berichtet Maria, die ihn dafür „erst mal zurechtweisen musste“.

 

Lehre mit 40 abgeschlossen

Und weil sich Otto Franzke „artig entschuldigte“ und fortan nicht lockerließ, haben die beiden Verliebten am 15. Juli 1945 Ja zueinander gesagt. Es war eine Sensation: eine weiße Braut mit Schleier im selbst genähten weißen Hochzeitskleid aus Fallschirmseide und der Bräutigam im schwarzen Anzug mit Zylinder – der Hochzeitsbraten war ein Kaninchen. „Küssen war seine Welt, und das war immer so“, denkt Maria Franzke an ihre „mit Liebe erfüllten Ehejahre“ zurück. Hausfrau, Mutter und Fachverkäuferin, letztere Qualifikation holte sie sich mit einer Eins in der Prüfung – außer in Marxismus und Leninismus – mit 40 Jahren als Älteste in der Klasse. In Delitzsch betrieb sie mit 17 Mitarbeitern eine Lebensmittelverkaufsstelle mit Kosmetikabteilung und wurde durch ihr Engagement sieben Mal zur „Aktivistin der sozialistischen Arbeit“ gekürt, so die Hochbetagte mit dem beeindruckenden Gedächtnis.

Am 7. Oktober 1989, am „40. Jahrestag der DDR“, habe sie noch die „Verdienstmedaille der DDR“ verliehen bekommen, bei der dazugehörigen Reise mit dem Luxusschiff Arkona nach Kuba sei allerdings die Wende dazwischengekommen. „Meine Devise war immer, es gibt nichts, was nicht geht. Für mich galt immer, alles oder nichts. Das habe ich mir selbst eingebrockt, da muss ich durch.“

Es war 1995, als das Ehepaar vom sächsischen Delitzsch nach Kirchheim zog. „An unserem 69. Hochzeitstag 2014 musste ich meinen liebsten Menschen mit 92 Jahren hergeben.“ Wie nahezu in jedem langen Leben gab es auch bei diesem Ehepaar Auf und Abs. Kriegsleiden wie Verwundung, Gefangenschaft, Ausweisung, Wohnungssuche – aber auch sechsfaches Leben. Vier Buben und zwei Mädchen erblickten von 1946 bis 1958 das Licht der Welt, zuletzt kamen Zwillinge. Leider musste sie 1991 und 2017 zwei ihrer Söhne zu Grabe tragen. Die Familie komplett machen elf Enkel und neun Urenkel.

Bereits als Jugendliche habe sie geturnt und auch danach stets viel Sport gemacht, im Garten gearbeitet und sei mit ihrem Mann gerne durch Europa gereist, so die Jubilarin, deren Wurzeln in Österreich liegen. Geistig rege und fit ohne Hörgerät oder Brille, aber körperlich schwach, aufgrund unterschiedlicher Operationen, lebt Maria Franzke seit etwa acht Jahren im Pflegeheim St. Hedwig in Kirchheim.